Sparsames Meisterwerk
Frisch von der CES – mit dem Vision EQXX strahlt der Mercedes-Stern auf Sparflamme
Das Imperium schlägt zurück: Schon mit dem EQS hat sich Mercedes mit reichlich Verspätung wieder auf Augenhöhe mit Tesla & Co gekämpft. Doch wenn die Schwaben jetzt pünktlich zur CES in Las Vegas den EQXX enthüllen, will der Erfinder des Autos auch die Deutungshoheit über dessen Zukunft zurückgewinnen. Denn mit einer Reichweite von mehr als 1 000 Kilometern, der größten Effizienz und dem kleinsten cWWert aller Elektroautos legt Stuttgart die Latte höher als je zuvor.
„Die Zukunft des Elektroautos“„Der Mercedes EQXX zeigt, wie wir uns die Zukunft des Elektroautos vorstellen“, sagt Konzernchef Ola Källenius über den Silberling aus dem Windkanal, der auf einen Rekordwert von 0,18 heruntergerechnet wurde. Dafür haben Designchef Gorden Wagener und der oberste Aerodynamiker Teddy Woll so lange miteinander gerungen, bis ein extrem flacher und schnittiger Viertürer von rund fünf Metern im Windkanal stand, der trotzdem gegenwärtig und alltagstauglich aussieht und sich experimentelle Eigenheiten wie verkleidete Radkästen oder digitale Außenspiegel spart.
Stattdessen gibt eine extrem glatte Front mit einer dichten Kühlerjalousie, die nur dann Luft durch den Bug und die Nüstern oben auf der Haube strömen lässt, wenn es wirklich unvermeidbar ist, eine hinten kaum sichtbar eingezogen Spur, nahezu geschlossene Räder mit Reifen ohne Beschriftung auf der Flanke und ein markantes Heck mit einer weit nach hinten gerückten, messerscharfen Abrisskante
sowie einem ausfahrbaren Bodenspoiler.
Zwar hat Mercedes reichlich Erfahrung mit Stromlinien-Autos, doch anders als bei früheren Silberpfeilen verfolgt Mercedes damit diesmal ein anderes Ziel: Ging es beim W125 oder beim C111 um maximale Eile und Rekordgeschwindigkeiten, zielen die Schwaben diesmal auf höchste Effizienz und eine rekordverdächtige Reichweite – und limitieren den ersten Silberpfeil für die Generation E deshalb auf 140 km/h, die er aber auch auf Dauer halten kann.
Denn nur mit maximaler Effizienz ergibt die Rekord-Reichweite für die Schwaben Sinn. Weit zu fahren sei an sich schließlich keine Kunst, räumt Klaus Millerferli ein, der den Aufbau des Prototypen verantwortet: Entweder man schleicht oder man montiert wie Nio, Tesla oder Lucid einfach riesige Batterien. Weil beides für die Schwaben nicht in Frage kam, haben sie stattdessen die Effizienz erhöht und so den Verbrauch gedrückt. Mit weniger als zehn Kilowattstunden pro 100 Kilometer überträgt er die Idee vom EinliterAuto auf die Electric Avenue.
Dafür haben Millerferli und seine Kollegen alle Register gezogen: Die neue Aerodynamik als größter Baustein, dazu ein Antrieb, bei dem zwischen der Batterie, dem 150 kW starken E-Motor und den Rädern nur fünf Prozent Energie verloren gehen, und ein Gewicht, von dem andere E-Entwickler nur träumen können. Mit 1 750 Kilo ist der EQXX noch 20 Prozent leichter als ein EQA, obwohl er den kleinen Stromer um mindestens einen halben Meter überragt.
Kleine und leichte Batterie
Den Löwenanteil an dieser Diät leistet die Batterie, die mit den Teams der Formel 1 und der Formel E entwickelt wurde. Mit neuen Zellen, optimierter Chemie, auf 900 Volt angehobener Betriebsspannung und einem Gehäuse aus Karbon statt Aluminium hat sie zwar mit rund 100 kWh die gleiche Kapazität wie im EQS und 50 Prozent mehr Power als im EQA. Aber sie ist kleiner und leichter als die im elektrischen Flaggschiff und passt damit problemlos in die sogenannte Modulare Mercedes Architektur (MMA), auf der sie in Sindelfingen die kommenden EFahrzeuge für die Kompakt- und die Mittelklasse entwickeln.
Wie fest der EQXX im Hier und Jetzt steht, sieht man auch am Interieur – selbst wenn vor allem das Infotainment buchstäblich „next level“ist. Denn gemessen an dem quer durchs Cockpit gespannten Display wirkt der eben noch als Hightech gefeierte Hyperscreen des EQS schon wieder wie ein Röhrenfernseher und die Grafiken muten fast schon museal an, so faszinierend ist das neue Feuerwerk der Pixel. Dass solch ein riesiges Display und die Prozessoren dahinter für gewöhnlich viel Energie brauchen, kümmerte die Entwickler recht wenig. Denn erstens bauen sie natürlich besonders sparsame Chips ein, zweitens blenden sie unbenutzte Pixel permanent aus und drittens zapfen sie für das Infotainment die Sonne an: Solarzellen auf dem Dach liefern genügend Strom für alle Nebenverbraucher, die sonst am 12 Volt-Akku hängen, so Millerferli.
Weil bei diesem Forschungsprojekt wirklich alle Disziplinen mitgearbeitet haben, geht der EQXX auch bei Konstruktion und Produktion neue Wege: Einzelne Bauteile wurden deshalb wie die Monster in Computerspielen mit bionischen Programmen berechnet und erinnern wie schon vor fast 20 Jahren bei dem vom Kofferfisch inspirierten Bionic Car eher an gewachsene Knochenstrukturen als an mechanische Komponenten.
Diese Verfahren sparen Zeit und vor allem Gewicht, weil die Materialstärke immer optimal an den Lastverlauf angepasst ist. Auch das ist ein Grund, weshalb der EQXX weniger wiegt als eine konventionelle C-Klasse.
Ebenfalls nachhaltig ist die Materialauswahl, die neben recyceltem Plastik auch auf eine neue Generation nachwachsender Rohstoffe setzt. Denn die Schwaben nutzen nicht nur Naturfasern wie Bambus, sondern züchten im Labor sogar spezielle Pilze, deren Gewebe bereits nach zwei Wochen Wachstum zu Sitzbezügen verarbeitet werden kann.
Im Frühjahr durch Europa
Seine Premiere feiert der EQXX zwar rein digital – und trägt dort offiziell auch noch den Beinamen Vision. Doch wer die Studie genau anschaut, entdeckt im Scheibenrahmen sogar eine Fahrgestellnummer, und eine Straßenzulassung hat der Silberpfeil der Neuzeit auch. Denn bald soll die Vision Wirklichkeit werden und noch im Frühjahr auf einer Langstreckenfahrt durch Europa beweisen, dass die Praxis hält, was die Theorie verspricht.
Die Schwaben züchten im Labor Pilze, deren Gewebe nach zwei Wochen Wachstum zu Sitzbezügen verarbeitet werden kann.