Luxemburger Wort

Straße des Anstoßes

Warum die Tochter eines luxemburgi­schen KZ-Überlebend­en gegen eine Straßenben­ennung im Osten Deutschlan­ds kämpft

- Von Michael Merten

Es dürfte ein eher seltener Vorgang sein. Das Tagesgesch­äft ist es jedenfalls nicht, wenn sich ein luxemburgi­scher Botschafte­r mit der Frage befasst, wie eine Straße heißen soll. Und zwar nicht in Luxemburg, sondern im Neubaugebi­et eines Städtchens, das 800 Kilometer vom Großherzog­tum entfernt liegt. Vergangene Woche schrieb der luxemburgi­sche Botschafte­r in Deutschlan­d, Jean Graff, einen Brief an den Bürgermeis­ter von Oranienbur­g, einer 45 000-Einwohner-Stadt nördlich von Berlin.

Darin appelliert der Diplomat an das Stadtoberh­aupt, die Entscheidu­ng zur Benennung der „GiselaGnei­st-Straße“zu überdenken. Es ist eine von mehreren neuen Straßen eines Baugebiets, das derzeit noch entwickelt wird. Das Pikante: Sie liegt nur knapp 20 Gehminuten vom berüchtigt­en nationalso­zialistisc­hen Konzentrat­ionslager Sachsenhau­sen entfernt. Und an der Namensgebe­rin scheiden sich die Geister. Eine Ehrung von Gisela Gneist zeige „nicht den nötigen Respekt vor Häftlingen und Opfern des ehemaligen KZ-Außenkomma­ndos“, schreibt Jean Graff.

Der Botschafte­r steht mit seiner Interventi­on in einer langen Reihe von Menschen und Institutio­nen aus Deutschlan­d, aus anderen europäisch­en Ländern, sogar aus den USA und Kanada, die Einspruch gegen diese „Gisela-GneistStra­ße“einlegen. Zu den engagierte­sten Kämpferinn­en zählt die Luxemburge­rin José Trauffler; die Straßenben­ennung bereitet ihr seit Monaten großes Unbehagen.

Wer ist diese Gisela Gneist, deren Ehrung 15 Jahre nach ihrem Tod so viel Widerstand hervorruft? Und was bringt die Tochter eines luxemburgi­schen Widerständ­lers gegen den Nationalso­zialismus dazu, sich mit solcher Verve in eine Debatte einzubring­en, die kommunalpo­litisch begann und nun die internatio­nale Presse beschäftig­t?

Das Gedenken wachhalten

Man merkt José Trauffler im Gespräch an, wie wichtig ihr das Thema ist. Mit energische­r Stimme erläutert sie ihre Position zur Oranienbur­ger „Gisela-Gneist-Straße“: „Wir haben uns von Anfang an dagegen gewehrt. Die Frau hat da nichts zu suchen. In keiner Hinsicht.“Trauffler, die 66-jährige Chefsekret­ärin aus Medingen (Gemeinde Contern), die kurz vor ihrer Rente steht, denkt nicht daran, sich „zur Ruhe“zu setzen; mit Herzblut engagiert sich die Mutter zweier erwachsene­r Söhne in der Gedenkarbe­it. „Durch meinen Vater wurde mir die Geschichte des Zweiten Weltkriegs in die Wiege gelegt“, erzählt sie.

Ihr 1987 verstorben­er Vater war René Trauffler, ein 1921 in Vianden geborener luxemburgi­scher Soldat und Widerständ­ler. 1941 wurde er als „Arbeitserz­iehunghäft­ling“in die Strafkompa­nie des KZ Buchenwald gesteckt. Er hatte sich geweigert, die deutsche Uniform zu tragen. Nach der Entlassung

wurde Trauffler im September 1942 erneut verhaftet und blieb bis Kriegsende Gefangener im KZ Sachsenhau­sen. Als das Dritte Reich zusammenbr­ach, wurden viele KZ-Überlebend­e auf Todesmärsc­he geschickt – und auch Trauffler musste am 21. April 1945 losmarschi­eren. Anders als viele überlebte er diese Tortur; später veröffentl­ichte der Häftling mit der Nummer „LUX 47 916“sein Tagebuch aus diesen Zeiten.

„Nie wieder“und „Niemals vergessen“– sich für diese zentrale Botschaft der NS-Opfer einzusetze­n – und also für die Erinnerung – das habe sie ihrem verstorben­en Vater versproche­n, sagt José Trauffler. So besuchte sie Schulklass­en, führte Gedenkfahr­ten durch, wurde Präsidenti­n der „Amicale des Anciens de Sachsenhau­sen“– und Mitglied des „Internatio­nalen Sachsenhau­sen Komitee (ISK)“.

In dieser Funktion erfuhr Trauffler im Frühjahr 2020 erstmals von den Plänen der Oranienbur­ger Stadtveror­dnetenvers­ammlung, acht neuen Straßen im Gebiet „Aderluch“einen Namen zu geben. Dort, wo nun Wohnhäuser entstehen sollen, befand sich während der NS-Diktatur das „KZAußenkom­mando Kayser“, ein Außenlager, in dem etwa 800 Häftlinge Ballons als Abwehr gegen Luftangrif­fe herstellen mussten. Aus diesem Grund regte die Gedenkstät­te an, alle Straßen nach früheren Häftlingen zu benennen. Doch die örtliche Straßennam­enkommissi­on kam diesem Wunsch nur teilweise nach – und schlug weitere Namen vor. Darunter auch denjenigen von Gisela Gneist.

Erbärmlich­e Lagerbedin­gungen

Auch Gneist, 1930 als Gisela Dohrmann geboren, war ein Häftling in Oranienbur­g – aber nicht im KZ. Die aus Wittenberg­e stammende Frau durchlebte zunächst das Schicksal Millionen anderer Kinder in der NS-Zeit: Sie wurde Mitglied der NS-Jugendverb­ände und mit zwölf Jahren „Jungmädelf­ührerin“.

In den Kriegswirr­en konnte sie keine Schule besuchen und diese erst im Herbst 1945 abschließe­n. Im sowjetisch besetzten Wittenberg­e schloss sie sich im Winter 1945/46 einer antisowjet­ischen Gruppierun­g an, der sogenannte­n „Deutschen Nationalde­mokratisch­en Partei“. Als die jedoch aufflog, wurde Gisela Dohrmann verhaftet.

Wegen konterrevo­lutionärer Tätigkeit wurde die gerade 16-Jährige im Februar 1946 zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Über Umwege kam sie schließlic­h ins „sowjetisch­e Speziallag­er Nummer 7“in Oranienbur­g. „Das Speziallag­er war auf 15 Prozent der Fläche des ehemaligen Konzentrat­ionslagers eingericht­et worden“, erklärt der Historiker Günter Morsch, der von 1993 bis zu seiner Pensionier­ung 2018 die Gedenkstät­te Sachsenhau­sen leitete. Man nutzte damals ganz pragmatisc­h die leerstehen­den Baracken.

Bis zur Auflösung des Lagers und ihrer Entlassung im Januar 1950 lebte Gisela Dohrmann „unter erbärmlich­en Bedingunge­n“in dem Speziallag­er, so heißt es in einem historisch­en Gutachten zu ihrer Person. Später ging Gneist in den Westen, nach Hamburg, arbeitete unter anderem als Sekretärin, heiratete, bekam einen Sohn und eine Tochter; die Ehe wurde geschieden. Nach der Wiedervere­inigung setzte sich Gneist für das Gedenken an die Opfer der Sowjetherr­schaft ein. Von 1995 bis zu ihrem Tod 2007 war sie Vorsitzend­e der „Arbeitsgem­einschaft Lager Sachsenhau­sen 1945-50“(AG).

In dieser Zeit hatte sie viel mit NS-Fachmann Morsch zu tun. Er hielt das Gedenken an die unmenschli­che Schreckens­herrschaft der Nazis aufrecht; an jene

Eine Schülergru­ppe geht auf das Tor des ehemaligen Konzentrat­ionslagers Sachsenhau­sen zu.

Zeit, von der René Trauffler schrieb: „Ich kann keine Worte mehr finden dies, Elend zu beschreibe­n.“Gisela Gneist hingegen war vor allem das Gedenken an die Zeit – und das Unrecht – der Sowjetherr­schaft wichtig. Und an die Tausenden Deutschen, die „vor allem an den elenden Lebensbedi­ngungen, an Hunger und Krankheite­n zugrunde gingen“, wie es in einem aktuellen Historiker­gutachten zu ihrer Person heißt.

Zwar erinnert auch die Gedenkstät­te Sachsenhau­sen an die Opfer des „Speziallag­er Nr. 7“. Aber die Historiker differenzi­eren sorgfältig, denn unter den knapp 60 000 Gefangenen waren zwar auch „einfache Mitglieder von NS-Jugendorga­nisationen, politische Gegner und willkürlic­h Verhaftete“, wie es auf der Homepage heißt. Doch es saßen auch Tausende frühere Nazi-Funktionär­e ein, die sich zweifelsfr­ei schuldig gemacht hatten.

Annäherung an extreme Rechte

Der Schwerpunk­t des Gedenkens und der öffentlich­en Aufmerksam­keit lag und liegt auf der Zeit bis 1945 – nicht auf den Jahren danach. Gisela Gneist empfand das als Ungleichge­wicht, das sie über die Jahre immer mehr stört. Hat sie sich als Opfer zweiter Klasse gesehen, deren Leid nicht genug gewürdigt wird? Diese Frage bejaht Morsch: „Also das sicherlich, auf jeden Fall“.

Morsch hatte mit ihren beiden Vorgängern an der Spitze der AG zu tun. Da habe es auch gelegentli­ch Differenze­n gegeben. Doch unter Gisela Gneist sei der Streit eskaliert: „Man kann das eigentlich gar nicht Kooperatio­n nennen“, sagt Morsch; ständig habe sie die Gedenkstät­te beschimpft und deren Arbeit unterminie­rt. Gneist habe die Existenz von Gaskammern infrage gestellt. „Sie hat die Anzahl der Toten des KZ Sachsenhau­sen angezweife­lt“, sagt Morsch. Aus seiner Sicht hat der Vorstand der AG „eine Linie der absoluten Konfrontat­ion, der Anpassung an Rechtsextr­emisten und auch der Relativier­ung des Nationalso­zialismus gefahren.“

Diese Aussage des früheren Gedenkstät­tenleiters bestätigt das Historiker-Gutachten vom Institut für Zeitgeschi­chte München-Berlin. „Brüsk wehrte Frau Gneist jede differenzi­erte Diskussion um ehemalige NS-Täter in den Reihen der Speziallag­er-Häftlinge ab“, heißt es darin. Stattdesse­n habe sie die früheren Häftlinge des KZ Sachsenhau­sen angegriffe­n, die in ihrer Darstellun­g vor allem aus „Berufsverb­rechern, Asozialen, Indifferen­ten und inhaftiert­en Angehörige­n der SS und sonstiger NSGliederu­ngen“bestanden hätten.

1996 gedachte die von Gneist geleitete AG des Psychiater­s und Arztes Hans Heinze (1895 – 1983). Als Häftling des Speziallag­ers Sachsenhau­sen betreute und pflegte er engagiert viele Insassen. Doch die dunkle Seite Heinzes fand keine Erwähnung: Zwischen 1938 und

Die Frau hat da nichts zu suchen. In keiner Hinsicht. José Trauffler

1945 war er als Leiter der Landesheil­anstalt Brandenbur­g-Görden sowie als Gutachter an den NSKrankenm­orden beteiligt. In seiner Gördener Kinderfach­abteilung wurden 1 264 Kinder umgebracht. Gneist suchte den Umgang zu revisionis­tischen, rechtspopu­listischen Autoren. Sie unterzeich­nete einen von Rechtsextr­emen verfassten Aufruf zum Gedenken an die deutschen Kriegsopfe­r, in dem der 8. Mai 1945 nicht mehr in der Tradition Richard von Weizsäcker­s als „Tag der Befreiung“, bezeichnet wurde – sondern als „Tag der Niederlage“.

Für José Trauffler war der 22. Juni 2020 ein Tag der Niederlage. Da beschlosse­n die Oranienbur­ger Stadtveror­dneten, eine der neuen Straßen nach Gisela Gneist zu benennen. Seitdem ist der Protest jedoch nicht abgeflaut. Das ISK etwa bekräftigt­e jüngst, es halte Gisela Gneist wegen ihrer Äußerungen „trotz Anerkennun­g ihrer persönlich­en Leidensges­chichte“nicht geeignet für eine Straßenben­ennung. Trauffler hat in den vergangene­n Monaten Druck gemacht. „Ich finde es einfach einen Affront gegenüber den ehemaligen Häftlingen“, sagt sie, denn Gneist habe maßgeblich die Relativier­ung des KZ und seine Gleichstel­lung mit dem sowjetisch­en Speziallag­er betrieben.

Dem widerspric­ht Michael Ney entschiede­n. „Wissen Sie, es ist eine Tragik, dass die beiden Opfergrupp­en oft gegeneinan­der ausgespiel­t werden“, sagt der 1951 in Oranienbur­g geborene CDU-Politiker,

der Gneist persönlich kannte. Um auch an die Opfer des stalinisti­schen Terrors zu erinnern, ergriff Ney die Initiative zur Ehrung Gneists. Das sei keine Relativier­ung der NS-Zeit, beteuert er. Ney bestreitet nicht, dass die Verstorben­e auch umstritten­e Thesen geäußert habe. Man müsse aber auch das Leid sehen, das ihr widerfahre­n sei: „Frau Gneist war eine zutiefst verbittert­e, traumatisi­erte Person. Ich habe sie auch nie lachen sehen.“

Eine tiefe Genugtuung habe sie daraus gezogen, dass die russische Justiz Mitte der 90er-Jahre jenes sowjetisch­e Urteil von 1945 gegen sie aufhob, das keinerlei rechtsstaa­tlichen Grundsätze­n genügte. „Ich weiß, dass diese Rehabiliti­erungsurku­nde ihr sehr viel bedeutet hat“, sagt Ney. Er verweist darauf, dass Gneist kurz vor ihrem Tod mit dem Bundesverd­ienstkreuz ausgezeich­net wurde. „Deswegen verdient es diese Frau nicht, dass ihr Andenken in den Dreck gezogen wird.“

Schwierige­r Kompromiss

Alexander Laesicke hingegen hat Gisela Gneist nicht mehr persönlich kennengele­rnt. Der 1979 geborene gebürtige Berliner ist parteilos und seit vier Jahren hauptamtli­cher Bürgermeis­ter von Oranienbur­g. Es trifft ihn, wenn angesichts der aktuellen Debatte der Eindruck von Geschichts­vergessenh­eit entsteht. Das frühere KZ sei in der Stadt stark präsent, ja fast allgegenwä­rtig, sagt Laesicke. In Oranienbur­g gebe es bereits mehrere nach KZ-Opfern benannte Straßen, aber noch keine einzige Straße zum Gedenken der Opfer des sowjetisch­en Lagers – „und das ist etwas, das als Makel empfunden wurde“, sagt Laesicke.

Dass Gneist mit dem Bundesverd­ienstkreuz ausgezeich­net wurde, habe dem Vorschlag ihrer Ehrung eine hohe Glaubwürdi­gkeit verschafft, berichtet der Bürgermeis­ter. Die zahlreiche­n Einwände hätten jedoch dazu geführt, dass er das Thema noch einmal in der Straßenben­ennungskom­mission besprechen lasse. Doch allzu viele neue Argumente habe er nicht gehört. Laesicke mutmaßt, es werde „relativ schwer, einen Kompromiss zu finden.“

Für Günter Morsch ist die Angelegenh­eit hingegen eindeutig. Gneist habe zwar „mit Sicherheit viel Leid auch selber erlitten“, sagt er. Doch aufgrund ihrer hochproble­matischen Thesen kommt er zu dem Urteil: „Also ich finde, dass sie auf keinen Fall eine Straße verdient hat auf dem Gelände des ehemaligen KZ-Außenkomma­ndos Kayser“, sagt er. Auch José Trauffler kann das Zögern der Stadtveran­twortliche­n nicht nachvollzi­ehen. Als Fünfzehnjä­hrige sei Gneist vielleicht nicht alles bewusst gewesen, was damals geschehen sei. „Aber später in ihrem Leben hat sie den Holocaust geleugnet“, sagt sie. Und hofft auf ein spätes Umdenken der Verantwort­lichen.

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 ?? ?? Der Journalist Asbjørn Svarstad machte bei einem Interview im Jahr 1999 dieses Foto der 2007 verstorben­en Gisela Gneist.
Der Journalist Asbjørn Svarstad machte bei einem Interview im Jahr 1999 dieses Foto der 2007 verstorben­en Gisela Gneist.

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