Straße des Anstoßes
Warum die Tochter eines luxemburgischen KZ-Überlebenden gegen eine Straßenbenennung im Osten Deutschlands kämpft
Es dürfte ein eher seltener Vorgang sein. Das Tagesgeschäft ist es jedenfalls nicht, wenn sich ein luxemburgischer Botschafter mit der Frage befasst, wie eine Straße heißen soll. Und zwar nicht in Luxemburg, sondern im Neubaugebiet eines Städtchens, das 800 Kilometer vom Großherzogtum entfernt liegt. Vergangene Woche schrieb der luxemburgische Botschafter in Deutschland, Jean Graff, einen Brief an den Bürgermeister von Oranienburg, einer 45 000-Einwohner-Stadt nördlich von Berlin.
Darin appelliert der Diplomat an das Stadtoberhaupt, die Entscheidung zur Benennung der „GiselaGneist-Straße“zu überdenken. Es ist eine von mehreren neuen Straßen eines Baugebiets, das derzeit noch entwickelt wird. Das Pikante: Sie liegt nur knapp 20 Gehminuten vom berüchtigten nationalsozialistischen Konzentrationslager Sachsenhausen entfernt. Und an der Namensgeberin scheiden sich die Geister. Eine Ehrung von Gisela Gneist zeige „nicht den nötigen Respekt vor Häftlingen und Opfern des ehemaligen KZ-Außenkommandos“, schreibt Jean Graff.
Der Botschafter steht mit seiner Intervention in einer langen Reihe von Menschen und Institutionen aus Deutschland, aus anderen europäischen Ländern, sogar aus den USA und Kanada, die Einspruch gegen diese „Gisela-GneistStraße“einlegen. Zu den engagiertesten Kämpferinnen zählt die Luxemburgerin José Trauffler; die Straßenbenennung bereitet ihr seit Monaten großes Unbehagen.
Wer ist diese Gisela Gneist, deren Ehrung 15 Jahre nach ihrem Tod so viel Widerstand hervorruft? Und was bringt die Tochter eines luxemburgischen Widerständlers gegen den Nationalsozialismus dazu, sich mit solcher Verve in eine Debatte einzubringen, die kommunalpolitisch begann und nun die internationale Presse beschäftigt?
Das Gedenken wachhalten
Man merkt José Trauffler im Gespräch an, wie wichtig ihr das Thema ist. Mit energischer Stimme erläutert sie ihre Position zur Oranienburger „Gisela-Gneist-Straße“: „Wir haben uns von Anfang an dagegen gewehrt. Die Frau hat da nichts zu suchen. In keiner Hinsicht.“Trauffler, die 66-jährige Chefsekretärin aus Medingen (Gemeinde Contern), die kurz vor ihrer Rente steht, denkt nicht daran, sich „zur Ruhe“zu setzen; mit Herzblut engagiert sich die Mutter zweier erwachsener Söhne in der Gedenkarbeit. „Durch meinen Vater wurde mir die Geschichte des Zweiten Weltkriegs in die Wiege gelegt“, erzählt sie.
Ihr 1987 verstorbener Vater war René Trauffler, ein 1921 in Vianden geborener luxemburgischer Soldat und Widerständler. 1941 wurde er als „Arbeitserziehunghäftling“in die Strafkompanie des KZ Buchenwald gesteckt. Er hatte sich geweigert, die deutsche Uniform zu tragen. Nach der Entlassung
wurde Trauffler im September 1942 erneut verhaftet und blieb bis Kriegsende Gefangener im KZ Sachsenhausen. Als das Dritte Reich zusammenbrach, wurden viele KZ-Überlebende auf Todesmärsche geschickt – und auch Trauffler musste am 21. April 1945 losmarschieren. Anders als viele überlebte er diese Tortur; später veröffentlichte der Häftling mit der Nummer „LUX 47 916“sein Tagebuch aus diesen Zeiten.
„Nie wieder“und „Niemals vergessen“– sich für diese zentrale Botschaft der NS-Opfer einzusetzen – und also für die Erinnerung – das habe sie ihrem verstorbenen Vater versprochen, sagt José Trauffler. So besuchte sie Schulklassen, führte Gedenkfahrten durch, wurde Präsidentin der „Amicale des Anciens de Sachsenhausen“– und Mitglied des „Internationalen Sachsenhausen Komitee (ISK)“.
In dieser Funktion erfuhr Trauffler im Frühjahr 2020 erstmals von den Plänen der Oranienburger Stadtverordnetenversammlung, acht neuen Straßen im Gebiet „Aderluch“einen Namen zu geben. Dort, wo nun Wohnhäuser entstehen sollen, befand sich während der NS-Diktatur das „KZAußenkommando Kayser“, ein Außenlager, in dem etwa 800 Häftlinge Ballons als Abwehr gegen Luftangriffe herstellen mussten. Aus diesem Grund regte die Gedenkstätte an, alle Straßen nach früheren Häftlingen zu benennen. Doch die örtliche Straßennamenkommission kam diesem Wunsch nur teilweise nach – und schlug weitere Namen vor. Darunter auch denjenigen von Gisela Gneist.
Erbärmliche Lagerbedingungen
Auch Gneist, 1930 als Gisela Dohrmann geboren, war ein Häftling in Oranienburg – aber nicht im KZ. Die aus Wittenberge stammende Frau durchlebte zunächst das Schicksal Millionen anderer Kinder in der NS-Zeit: Sie wurde Mitglied der NS-Jugendverbände und mit zwölf Jahren „Jungmädelführerin“.
In den Kriegswirren konnte sie keine Schule besuchen und diese erst im Herbst 1945 abschließen. Im sowjetisch besetzten Wittenberge schloss sie sich im Winter 1945/46 einer antisowjetischen Gruppierung an, der sogenannten „Deutschen Nationaldemokratischen Partei“. Als die jedoch aufflog, wurde Gisela Dohrmann verhaftet.
Wegen konterrevolutionärer Tätigkeit wurde die gerade 16-Jährige im Februar 1946 zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt. Über Umwege kam sie schließlich ins „sowjetische Speziallager Nummer 7“in Oranienburg. „Das Speziallager war auf 15 Prozent der Fläche des ehemaligen Konzentrationslagers eingerichtet worden“, erklärt der Historiker Günter Morsch, der von 1993 bis zu seiner Pensionierung 2018 die Gedenkstätte Sachsenhausen leitete. Man nutzte damals ganz pragmatisch die leerstehenden Baracken.
Bis zur Auflösung des Lagers und ihrer Entlassung im Januar 1950 lebte Gisela Dohrmann „unter erbärmlichen Bedingungen“in dem Speziallager, so heißt es in einem historischen Gutachten zu ihrer Person. Später ging Gneist in den Westen, nach Hamburg, arbeitete unter anderem als Sekretärin, heiratete, bekam einen Sohn und eine Tochter; die Ehe wurde geschieden. Nach der Wiedervereinigung setzte sich Gneist für das Gedenken an die Opfer der Sowjetherrschaft ein. Von 1995 bis zu ihrem Tod 2007 war sie Vorsitzende der „Arbeitsgemeinschaft Lager Sachsenhausen 1945-50“(AG).
In dieser Zeit hatte sie viel mit NS-Fachmann Morsch zu tun. Er hielt das Gedenken an die unmenschliche Schreckensherrschaft der Nazis aufrecht; an jene
Eine Schülergruppe geht auf das Tor des ehemaligen Konzentrationslagers Sachsenhausen zu.
Zeit, von der René Trauffler schrieb: „Ich kann keine Worte mehr finden dies, Elend zu beschreiben.“Gisela Gneist hingegen war vor allem das Gedenken an die Zeit – und das Unrecht – der Sowjetherrschaft wichtig. Und an die Tausenden Deutschen, die „vor allem an den elenden Lebensbedingungen, an Hunger und Krankheiten zugrunde gingen“, wie es in einem aktuellen Historikergutachten zu ihrer Person heißt.
Zwar erinnert auch die Gedenkstätte Sachsenhausen an die Opfer des „Speziallager Nr. 7“. Aber die Historiker differenzieren sorgfältig, denn unter den knapp 60 000 Gefangenen waren zwar auch „einfache Mitglieder von NS-Jugendorganisationen, politische Gegner und willkürlich Verhaftete“, wie es auf der Homepage heißt. Doch es saßen auch Tausende frühere Nazi-Funktionäre ein, die sich zweifelsfrei schuldig gemacht hatten.
Annäherung an extreme Rechte
Der Schwerpunkt des Gedenkens und der öffentlichen Aufmerksamkeit lag und liegt auf der Zeit bis 1945 – nicht auf den Jahren danach. Gisela Gneist empfand das als Ungleichgewicht, das sie über die Jahre immer mehr stört. Hat sie sich als Opfer zweiter Klasse gesehen, deren Leid nicht genug gewürdigt wird? Diese Frage bejaht Morsch: „Also das sicherlich, auf jeden Fall“.
Morsch hatte mit ihren beiden Vorgängern an der Spitze der AG zu tun. Da habe es auch gelegentlich Differenzen gegeben. Doch unter Gisela Gneist sei der Streit eskaliert: „Man kann das eigentlich gar nicht Kooperation nennen“, sagt Morsch; ständig habe sie die Gedenkstätte beschimpft und deren Arbeit unterminiert. Gneist habe die Existenz von Gaskammern infrage gestellt. „Sie hat die Anzahl der Toten des KZ Sachsenhausen angezweifelt“, sagt Morsch. Aus seiner Sicht hat der Vorstand der AG „eine Linie der absoluten Konfrontation, der Anpassung an Rechtsextremisten und auch der Relativierung des Nationalsozialismus gefahren.“
Diese Aussage des früheren Gedenkstättenleiters bestätigt das Historiker-Gutachten vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin. „Brüsk wehrte Frau Gneist jede differenzierte Diskussion um ehemalige NS-Täter in den Reihen der Speziallager-Häftlinge ab“, heißt es darin. Stattdessen habe sie die früheren Häftlinge des KZ Sachsenhausen angegriffen, die in ihrer Darstellung vor allem aus „Berufsverbrechern, Asozialen, Indifferenten und inhaftierten Angehörigen der SS und sonstiger NSGliederungen“bestanden hätten.
1996 gedachte die von Gneist geleitete AG des Psychiaters und Arztes Hans Heinze (1895 – 1983). Als Häftling des Speziallagers Sachsenhausen betreute und pflegte er engagiert viele Insassen. Doch die dunkle Seite Heinzes fand keine Erwähnung: Zwischen 1938 und
Die Frau hat da nichts zu suchen. In keiner Hinsicht. José Trauffler
1945 war er als Leiter der Landesheilanstalt Brandenburg-Görden sowie als Gutachter an den NSKrankenmorden beteiligt. In seiner Gördener Kinderfachabteilung wurden 1 264 Kinder umgebracht. Gneist suchte den Umgang zu revisionistischen, rechtspopulistischen Autoren. Sie unterzeichnete einen von Rechtsextremen verfassten Aufruf zum Gedenken an die deutschen Kriegsopfer, in dem der 8. Mai 1945 nicht mehr in der Tradition Richard von Weizsäckers als „Tag der Befreiung“, bezeichnet wurde – sondern als „Tag der Niederlage“.
Für José Trauffler war der 22. Juni 2020 ein Tag der Niederlage. Da beschlossen die Oranienburger Stadtverordneten, eine der neuen Straßen nach Gisela Gneist zu benennen. Seitdem ist der Protest jedoch nicht abgeflaut. Das ISK etwa bekräftigte jüngst, es halte Gisela Gneist wegen ihrer Äußerungen „trotz Anerkennung ihrer persönlichen Leidensgeschichte“nicht geeignet für eine Straßenbenennung. Trauffler hat in den vergangenen Monaten Druck gemacht. „Ich finde es einfach einen Affront gegenüber den ehemaligen Häftlingen“, sagt sie, denn Gneist habe maßgeblich die Relativierung des KZ und seine Gleichstellung mit dem sowjetischen Speziallager betrieben.
Dem widerspricht Michael Ney entschieden. „Wissen Sie, es ist eine Tragik, dass die beiden Opfergruppen oft gegeneinander ausgespielt werden“, sagt der 1951 in Oranienburg geborene CDU-Politiker,
der Gneist persönlich kannte. Um auch an die Opfer des stalinistischen Terrors zu erinnern, ergriff Ney die Initiative zur Ehrung Gneists. Das sei keine Relativierung der NS-Zeit, beteuert er. Ney bestreitet nicht, dass die Verstorbene auch umstrittene Thesen geäußert habe. Man müsse aber auch das Leid sehen, das ihr widerfahren sei: „Frau Gneist war eine zutiefst verbitterte, traumatisierte Person. Ich habe sie auch nie lachen sehen.“
Eine tiefe Genugtuung habe sie daraus gezogen, dass die russische Justiz Mitte der 90er-Jahre jenes sowjetische Urteil von 1945 gegen sie aufhob, das keinerlei rechtsstaatlichen Grundsätzen genügte. „Ich weiß, dass diese Rehabilitierungsurkunde ihr sehr viel bedeutet hat“, sagt Ney. Er verweist darauf, dass Gneist kurz vor ihrem Tod mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde. „Deswegen verdient es diese Frau nicht, dass ihr Andenken in den Dreck gezogen wird.“
Schwieriger Kompromiss
Alexander Laesicke hingegen hat Gisela Gneist nicht mehr persönlich kennengelernt. Der 1979 geborene gebürtige Berliner ist parteilos und seit vier Jahren hauptamtlicher Bürgermeister von Oranienburg. Es trifft ihn, wenn angesichts der aktuellen Debatte der Eindruck von Geschichtsvergessenheit entsteht. Das frühere KZ sei in der Stadt stark präsent, ja fast allgegenwärtig, sagt Laesicke. In Oranienburg gebe es bereits mehrere nach KZ-Opfern benannte Straßen, aber noch keine einzige Straße zum Gedenken der Opfer des sowjetischen Lagers – „und das ist etwas, das als Makel empfunden wurde“, sagt Laesicke.
Dass Gneist mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde, habe dem Vorschlag ihrer Ehrung eine hohe Glaubwürdigkeit verschafft, berichtet der Bürgermeister. Die zahlreichen Einwände hätten jedoch dazu geführt, dass er das Thema noch einmal in der Straßenbenennungskommission besprechen lasse. Doch allzu viele neue Argumente habe er nicht gehört. Laesicke mutmaßt, es werde „relativ schwer, einen Kompromiss zu finden.“
Für Günter Morsch ist die Angelegenheit hingegen eindeutig. Gneist habe zwar „mit Sicherheit viel Leid auch selber erlitten“, sagt er. Doch aufgrund ihrer hochproblematischen Thesen kommt er zu dem Urteil: „Also ich finde, dass sie auf keinen Fall eine Straße verdient hat auf dem Gelände des ehemaligen KZ-Außenkommandos Kayser“, sagt er. Auch José Trauffler kann das Zögern der Stadtverantwortlichen nicht nachvollziehen. Als Fünfzehnjährige sei Gneist vielleicht nicht alles bewusst gewesen, was damals geschehen sei. „Aber später in ihrem Leben hat sie den Holocaust geleugnet“, sagt sie. Und hofft auf ein spätes Umdenken der Verantwortlichen.