Respekt für alle Opfer
Es ist eine komplizierte Frage, der sich die Oranienburger Stadtverordneten dieser Tage stellen müssen: Sollen sie ihre eigene Entscheidung vom Sommer 2020 kippen und die hoch umstrittene „Gisela-Gneist-Straße“umbenennen? Seit mehr als anderthalb Jahren stehen sich zwei Lager im Streit um diese an sich wenig bedeutende Straße im Neubaugebiet eines ostdeutschen Städtchens gegenüber. Dabei fällt es schwer, sich einen Kompromiss vorzustellen, der beide Seiten zufriedenstellt. Längst ist aus der anfangs kommunalpolitischen Angelegenheit ein grenzüberschreitendes Politikum geworden. Die Anhänger Gisela Gneists bestehen auf dieser Ehrung der 2007 verstorbenen Frau. Sie würdigen ihren langjährigen Einsatz zu Ehren der Opfer sowjetischer Unrechtsherrschaft. Gneists verbale Entgleisungen, ihre Annäherung an Rechtsextreme erklären sie mit den seelischen Wunden, die sie in den furchtbaren Lagerjahren erlitten hat. Doch wiegen ihre Verdienste die verbalen Fehltritte Gneists auf?
Eine Straße zu benennen ist ein bedeutsamer Akt, denn seine Wirkung reicht oft über Jahrhunderte hinweg, wie es in einer Handreichung des Deutschen Städtetags heißt. Die Benennung nach einer Person stelle „eine hohe Form der Ehrung durch die jeweilige Stadt“dar. „Insoweit sollte es sich um eine Person handeln, die würdig ist, geehrt zu werden, weil ihre Haltung oder ihr Lebenswerk eine Vorbildfunktion sowohl für die aktuelle wie auch für die nachfolgenden Generationen darstellt.“Als einen Grund für eine Umbenennung von Straßen führen die Experten des Städtetags etwa die „aktive Verbreitung menschenfeindlichen Gedankenguts“an. Hier ergibt sich ein klarer Hinderungsgrund im Fall von Gisela Gneist. Denn indem sie rechtsextreme Autoren hofiert hat, indem sie die Dimensionen der NSSchreckensherrschaft kleingeredet hat, indem sie auch Opfer beleidigt hat, hat Gisela Gneist sich selbst ins Abseits gestellt. Dabei gilt für sie der Grundsatz, nach dem sich auch jene mit der Corona-Politik unzufriedenen „besorgten Bürger“unserer Zeit messen lassen müssen: Kritik ist legitim. Doch wenn man keine Stoppschilder aufstellt, sobald Rechtsextreme bei den eigenen Demonstrationen mitmarschieren, ist eine Grenze überschritten. Da heißt es: „Man demonstriert nicht mit Nazis“. Punkt.
Ein Kompromiss könnte sein, sich von der umstrittenen Einzelperson fortzubewegen und die ganze Opfergruppe in den Blick zu nehmen. Warum keine „Straße der Opfer der sowjetischen Besatzungszeit“? Dass die Gedenkstätte gern alle acht neuen Straßen nach KZ-Häftlingen benannt hätte, obwohl es in Oranienburg noch keinen einzigen Weg zu Ehren eines dieser Opfer gibt, zeugt von mangelndem Einfühlungsvermögen und wird vor Ort zu Recht als Makel empfunden. Eine Lektion aus der erhitzten Debatte muss lauten, künftig auch die Zeit nach 1945 stärker in den Blick zu rücken. Dass Gisela Gneist offenbar das Gefühl hatte, ein „Opfer zweiter Klasse“zu sein, kann ihre Anbiederung an Rechts nicht entschuldigen, muss aber aufhorchen lassen. Hier sind die Gedenkstätten gefragt, Erinnerungsformate zeitgemäß weiterzuentwickeln, was sie angesichts des Sterbens der Zeitzeugen ohnehin tun müssen.
Auch die Opfer der Sowjetzeit müssen einen fairen Anteil am Gedenken haben.
Kontakt: michael.merten@wort.lu