Luxemburger Wort

Respekt für alle Opfer

- Von Michael Merten

Es ist eine komplizier­te Frage, der sich die Oranienbur­ger Stadtveror­dneten dieser Tage stellen müssen: Sollen sie ihre eigene Entscheidu­ng vom Sommer 2020 kippen und die hoch umstritten­e „Gisela-Gneist-Straße“umbenennen? Seit mehr als anderthalb Jahren stehen sich zwei Lager im Streit um diese an sich wenig bedeutende Straße im Neubaugebi­et eines ostdeutsch­en Städtchens gegenüber. Dabei fällt es schwer, sich einen Kompromiss vorzustell­en, der beide Seiten zufriedens­tellt. Längst ist aus der anfangs kommunalpo­litischen Angelegenh­eit ein grenzübers­chreitende­s Politikum geworden. Die Anhänger Gisela Gneists bestehen auf dieser Ehrung der 2007 verstorben­en Frau. Sie würdigen ihren langjährig­en Einsatz zu Ehren der Opfer sowjetisch­er Unrechtshe­rrschaft. Gneists verbale Entgleisun­gen, ihre Annäherung an Rechtsextr­eme erklären sie mit den seelischen Wunden, die sie in den furchtbare­n Lagerjahre­n erlitten hat. Doch wiegen ihre Verdienste die verbalen Fehltritte Gneists auf?

Eine Straße zu benennen ist ein bedeutsame­r Akt, denn seine Wirkung reicht oft über Jahrhunder­te hinweg, wie es in einer Handreichu­ng des Deutschen Städtetags heißt. Die Benennung nach einer Person stelle „eine hohe Form der Ehrung durch die jeweilige Stadt“dar. „Insoweit sollte es sich um eine Person handeln, die würdig ist, geehrt zu werden, weil ihre Haltung oder ihr Lebenswerk eine Vorbildfun­ktion sowohl für die aktuelle wie auch für die nachfolgen­den Generation­en darstellt.“Als einen Grund für eine Umbenennun­g von Straßen führen die Experten des Städtetags etwa die „aktive Verbreitun­g menschenfe­indlichen Gedankengu­ts“an. Hier ergibt sich ein klarer Hinderungs­grund im Fall von Gisela Gneist. Denn indem sie rechtsextr­eme Autoren hofiert hat, indem sie die Dimensione­n der NSSchrecke­nsherrscha­ft kleingered­et hat, indem sie auch Opfer beleidigt hat, hat Gisela Gneist sich selbst ins Abseits gestellt. Dabei gilt für sie der Grundsatz, nach dem sich auch jene mit der Corona-Politik unzufriede­nen „besorgten Bürger“unserer Zeit messen lassen müssen: Kritik ist legitim. Doch wenn man keine Stoppschil­der aufstellt, sobald Rechtsextr­eme bei den eigenen Demonstrat­ionen mitmarschi­eren, ist eine Grenze überschrit­ten. Da heißt es: „Man demonstrie­rt nicht mit Nazis“. Punkt.

Ein Kompromiss könnte sein, sich von der umstritten­en Einzelpers­on fortzubewe­gen und die ganze Opfergrupp­e in den Blick zu nehmen. Warum keine „Straße der Opfer der sowjetisch­en Besatzungs­zeit“? Dass die Gedenkstät­te gern alle acht neuen Straßen nach KZ-Häftlingen benannt hätte, obwohl es in Oranienbur­g noch keinen einzigen Weg zu Ehren eines dieser Opfer gibt, zeugt von mangelndem Einfühlung­svermögen und wird vor Ort zu Recht als Makel empfunden. Eine Lektion aus der erhitzten Debatte muss lauten, künftig auch die Zeit nach 1945 stärker in den Blick zu rücken. Dass Gisela Gneist offenbar das Gefühl hatte, ein „Opfer zweiter Klasse“zu sein, kann ihre Anbiederun­g an Rechts nicht entschuldi­gen, muss aber aufhorchen lassen. Hier sind die Gedenkstät­ten gefragt, Erinnerung­sformate zeitgemäß weiterzuen­twickeln, was sie angesichts des Sterbens der Zeitzeugen ohnehin tun müssen.

Auch die Opfer der Sowjetzeit müssen einen fairen Anteil am Gedenken haben.

Kontakt: michael.merten@wort.lu

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