Luxemburger Wort

Halb so wild

-

68

Ich seufze leise. Ich müsste jetzt antworten, dass mir in den letzten Stunden einiges klar geworden ist. Ich habe zum Beispiel eingesehen, dass Conny und ich es nicht schaffen werden, unsere Ehe zu retten. Unsere Zukunft wäre nur ein blasser Abklatsch einer rosigen Vergangenh­eit, die länger zurücklieg­t, als ich es mir bisher eingestand­en habe. Conny würde ständig in Angst leben, ich könnte sie erneut betrügen und eines Tages doch noch mit einer anderen verschwind­en. Und ich würde auf diese Weise Tag für Tag an meine Schuld erinnert werden und an die Unmöglichk­eit, sie irgendwann abzutragen. Als Rainer und Ruth vor mehr als fünfzehn Jahren die exakt gleiche Krise durchmacht­en und sich wieder zusammenra­uften, da fing Ruth an, ihre Angst in Weißwein zu ertränken, und Rainer nahm das als Freibrief, sie zwar nicht zu verlassen, aber auch nie mehr ganz bei ihr zu sein. Eine solche Ehe will ich nicht führen.

Ich habe außerdem begriffen, dass ich zwar meinen Beruf mag, aber meinen Job hasse. Ich habe nicht Jura studiert, um Leuten dabei zu helfen, das Gesetz und die Gerichte zu überlisten, sondern weil ich an Gerechtigk­eit geglaubt habe. Das klingt zwar heute irgendwie kitschig, war aber damals einfach so. Ich lege außerdem keinen Wert auf Rainers Büro, auf sein Prestige oder auf sein Geld. In Zukunft möchte ich ohne Ballast arbeiten. Und ich würde mir meine Mandanten gern selbst aussuchen.

Außerdem habe ich begriffen, dass mein Leben nicht ewig dauert. Es wird eines Tages enden, und dann werde ich mir die Frage stellen, ob ich in der Zeit, die mir vergönnt war, getan habe, was ich tun wollte. In den letzten Tagen ist mir klar geworden, dass ich mit meiner Antwort auf diese Frage momentan ganz und gar nicht zufrieden wäre.

All das müsste ich nun erklären, stattdesse­n sage ich: „Ich fliege morgen nach Island. Vielleicht nur für ein paar Tage, vermutlich aber für länger.“

Um mich herum fassungslo­se Gesichter. Conny schießen Tränen in die Augen. „Hat das zufällig etwas mit deinem heutigen Termin nach Büroschlus­s zu tun? Du hast diese Frau wiedergese­hen, nicht wahr? Deswegen musst du nach Reykjavik. Um herauszufi­nden, ob du es mit ihr versuchen wirst oder ob du doch lieber mit mir vorliebnim­mst.“

Ich spüre, dass meine Schultern herabsacke­n.

„Ich kann das nicht“, sagt Conny. Sie dreht sich um und rauscht ins Haus.

Lena sieht mich an. Es ist kein strafender, sondern eher ein interessie­rter Blick. Sie scheint sich zu fragen, was gerade in mir vorgeht.

„Wer passt jetzt auf sie auf?“, fragt sie.

„Sie muss lernen, das selbst zu tun“, antworte ich. „Aber das wird sie schaffen.“

Lena überlegt, dann nickt sie sachte. „Ich schau mal nach ihr.“

„Da komm ich mit“, sagt Ruth und beeilt sich, ihrer Enkelin zu folgen.

Rainer hat das Grillgut vom Rost genommen und sich in einen Gartensess­el fallen lassen. Sieht ja ganz danach aus, dass der Abend gelaufen ist.

„Du steigt also von jetzt auf gleich aus“, stellt er fest. Er wirkt plötzlich sehr müde.

Ich nicke. „Du solltest Dylan meinen Job geben. Es gibt nichts, was er sich mehr wünscht, als Seniorpart­ner zu werden. Und wahrschein­lich ist er wesentlich besser dazu geeignet, als ich es jemals war.“

Rainer nickt bedächtig. „Okay.“„Ich kann Göttlers Fall noch zu Ende bringen, wenn du willst. Er hat ausdrückli­ch darum gebeten, dass ich ihn betreue.“

Rainer nickt erneut. „Gut. Einverstan­den.“

„Und ich möchte dich um noch etwas bitten, Rainer.“

„Falls es darum geht, dass ich ein Auge auf Conny und Lena haben soll, dann ist das kein Problem. Mach ich. Du kannst dich darauf verlassen.“

„Ja. Das war es, worum ich dich bitten wollte“, sage ich. „Danke.“

„Du musst mir nicht danken. Ich hab ja neuerdings genug Zeit, mich um die Familie zu kümmern. Also mach dir keine Sorgen. Viel Glück für deine Reise, Adam.“

„Wüsste ich nicht, dass du anderer Meinung bist, dann könnte ich jetzt glatt vermuten, dass du mich verstehst.“

„Verstehen ist zu viel gesagt.“Er lächelt. „Vielleicht beneide ich dich ein kleines bisschen. Aber das ist dann auch schon alles.“

22

Island zeigt sich von seiner ruppigen Seite. Es ist kalt, es regnet Bindfäden, und ein rauer Wind weht über den menschenle­eren Platz vor dem Flughafeng­ebäude. Ich habe zwar diesmal einen Direktflug erwischt, allerdings landet die Maschine wieder zu nachtschla­fender Zeit. Der imposante Himmel, den ich hier zuletzt bewundert habe, wirkt jetzt klein und sieht irgendwie schmutzig aus.

Und auch die Mitternach­tssonne hat ihren magischen Glanz verloren. Sie ist trüb, blass und kraftlos. Es kommt mir vor, als hätte jemand eine Milchglass­cheibe davorgesch­oben.

Der hilfsberei­te Mann in der Autovermie­tung ist derselbe wie beim letzten Mal. Wenigstens das fühlt sich ein bisschen heimisch an. Oder täusche ich mich etwa, und es handelt sich um einen völlig anderen Kerl, der nur ebenfalls einen knappen Anzug und einen üppigen Vollbart trägt? Schon beginne ich an meiner Verbundenh­eit mit Island zu zweifeln. Ist die Hoffnung, dass ich hier einen neuen Plan für mein Leben finden kann, nur eine Wunschvors­tellung?

Als der Bartträger im knappen Anzug damit beginnt, mir die Buchung eines Kleinwagen­s auszureden, um mich sogleich von den Vorteilen eines Geländefah­rzeugs zu überzeugen, winke ich ab. Nicht nötig, ich nehme gern den Wagen, der mir schon beim letzten Mal gute Dienste getan hat. Ich buchstabie­re ihm meinen Namen, er forscht danach im Computersy­stem und findet, was er sucht. Aha. Range Rover. Alles klar. Gute Wahl. Die Formalität­en nehmen keine zwanzig Minuten in Anspruch. Als ich in den Geländewag­en klettere, hat der Regen aufgehört, und der Wind weht merklich schwächer.

 ?? ??
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg