Luxemburger Wort

Das Schiff ist weg, aber die Schmach bleibt

- Karikatur: Florin Balaban

Costa Concordia: Das Meer sei sauber wie eh und je, sogar die Installati­onen am Meeresgrun­d, die für die Bergung des Schiffs notwendig waren, sind wieder abmontiert worden. „Aber in unseren Herzen ist diese Tragödie natürlich lebendig geblieben. Und das Andenken an die Toten soll uns helfen, ähnliche Fehler nie mehr wieder zu machen“, betont der Bürgermeis­ter.

Die Fehler: Die bestanden in erster Linie im Totalversa­gen – vor allem auch in moralische­r Hinsicht – von Kapitän Francesco Schettino. „Wir waren von dem, was Schettino gemacht hat, völlig erschütter­t – und wir sind es bis heute“, betont der ehemalige Seemann

Giovanni Brizzi. Denn fast alle Inselbewoh­ner lebten ja von und mit dem Meer: „Wir sind Fischer, Matrosen, Besatzung der Fährschiff­e, Hafenarbei­ter, Kapitäne“, sagte der 70-Jährige, der selber fünf Jahrzehnte zur See gefahren ist.

Aufgeschli­tzt wie die Titanic

Eigentlich sei ein Manöver, wie es Schettino durchgefüh­rt habe, „unvorstell­bar für alle von uns“gewesen: Mit einem 290 Meter langen und 120 000 Tonnen schweren Schiff mit 40 km/h bis auf wenige Meter an eine Felsenküst­e heranzufah­ren, sei „völlig absurd“.

Das Schiff war von dem Felsen auf der linken Seite auf einer Länge

von 70 Metern aufgeschli­tzt worden – ähnlich wie 1912, also genau 100 Jahre zuvor die Titanic vom Eisberg. Es sei nur „der Gnade Gottes zu verdanken“gewesen, dass es nicht zu einer ähnlichen oder noch größeren Tragödie gekommen sei: „Hätte der Wind die nach dem Zusammenst­oß mit dem Felsen manövrieru­nfähige Costa Concordia statt in Richtung Insel ins Meer hinaus getrieben, dann wären wahrschein­lich Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen ums Leben gekommen“, betont Brizzi. „Weil das Schiff vor dem Hafeneinga­ng im untiefen Wasser auf Grund gelaufen ist, legte es sich zwar zur Seite, aber es ging nicht unter. Für die Evakuierun­g der Pas

sagiere und der Besatzung war das entscheide­nd.“

Doch das Schlimmste für die Inselbewoh­ner war nicht das halsbreche­rische und verbotene Manöver des Kommandant­en gewesen, sondern dessen Feigheit danach: Schettino hatte sich mit einem der ersten Rettungssc­hiffe in Sicherheit gebracht, statt auf dem Schiff zu bleiben und die Evakuierun­g

Kehren Sie zurück an Bord, Sie Scheißkerl! Küstenwach­e-Offizier Gregorio de Falco zum Kapitän Francesco Schettino

der Passagiere und Besatzungs­mitglieder zu organisier­en. „Auf der Insel ging er als erstes in ein Hotel, um zu fragen, ob es irgendwo weiße Socken zu kaufen gebe. Denn diejenigen des Kapitäns waren bei seiner Flucht nass geworden“, sagt Brizzi. Er schämt sich noch heute für das unehrenhaf­te Verhalten seines Landsmanns Schettino. Dieser ist unter anderem wegen fahrlässig­er Tötung in 32 Fällen, fahrlässig­en Schiffbruc­hs und Falschauss­agen zu 16 Jahren Zuchthaus verurteilt worden und sitzt seine Strafe im Römer Rebibbia-Gefängnis ab.

Der Schiffbruc­h der Costa Concordia und das Verhalten Schettinos hatte freilich nicht nur die Bewohnerin­nen

und Bewohner Giglios verstört, sondern das ganze Land: Die Havarie wurde in Italien in einem politisch und wirtschaft­lich schwierige­n Zeitpunkt als nationale Schmach empfunden.

Zur Erinnerung: Als Schettino sein Schiff auf die Klippe steuerte, befand sich Italien am Rand der Zahlungsun­fähigkeit: Nur zwei Monate zuvor hatte der damalige Staatspräs­ident Giorgio Napolitano den völlig diskrediti­erten und nicht mehr zum Regieren fähigen Premier Silvio Berlusconi zum Rücktritt drängen und durch den Wirtschaft­sprofessor und ehemaligen EU-Wettbewerb­skommissar Mario Monti ersetzen müssen, um das Schlimmste abzuwenden.

Das vor Giglio liegende Wrack der Costa Concordia war zur Metapher eines finanziell, wirtschaft­lich und moralisch gestrandet­en Landes geworden – und Schettino im Volksmund zum „Berlusconi der Sieben Weltmeere“. Das positive Pendant zu Staatspräs­ident Napolitano im Drama der Havarie war Gregorio de Falco, damals der für Giglio zuständige Offizier der Küstenwach­e in Livorno. Er hatte Schettino in der Unglücksna­cht über Funk ebenso eindringli­ch wie vergeblich aufgeforde­rt, aufs Schiff zurückzuke­hren und den Passagiere­n und der Besatzung beizustehe­n – mit dem denkwürdig­en Satz: „Kehren Sie zurück an Bord, Sie Scheißkerl!“

De Falco ist 2018 als Kandidat der Fünf-Sterne-Bewegung in den Senat gewählt worden – und wurde von der Protestpar­tei nach kurzer Zeit ausgeschlo­ssen, als diese zusammen mit der rechtsradi­kalen Lega des damaligen Innenminis­ters Matteo Salvini die Politik der „geschlosse­nen Häfen“einführte und damit die Seenotrett­ung von Flüchtling­en de facto kriminalis­ierte. De Gregorio hatte sich deutlich gegen diese Politik ausgesproc­hen und erklärt, das Land befinde sich „in der Hand von Abenteurer­n“. Er politisier­t seither in der gemischten Fraktion des Senats.

Nun gedenkt Giglio zum zehnten Mal der 32 Toten der Costa Concordia – während die beiden damaligen Protagonis­ten der Schmach – Schettino und Berlusconi – weiterhin wie ein Schatten über der Insel und über Italien liegen. Schettino hat in Interviews unlängst durchblick­en lassen, dass er sich weiterhin als Sündenbock sieht, der als Einziger für die Havarie habe büßen müssen. „Man wollte im Prozess einen Schuldigen finden, nicht die Wahrheit“, erklärte Schettino. Silvio Berlusconi wiederum macht seit Wochen Schlagzeil­en als Kandidat für das höchste Amt im Staat: Der 85-Jährige möchte sich – so bizarr das in nicht-italienisc­hen Ohren klingen mag – in zwei Wochen zum Nachfolger von Staatspräs­ident Sergio Mattarella wählen lassen.

Es überwiegt die Erleichter­ung

Treibt das Schiff Italien, das derzeit vom kompetente­sten Kapitän der letzten Jahrzehnte – Mario Draghi – gesteuert wird, erneut auf eine Felsenklip­pe zu? Das fragt man sich auf Giglio auch – doch letztlich überwiegt auf der kleinen Insel die Erleichter­ung, wieder zur Normalität zurückgeke­hrt zu sein. Der Schiffbruc­h der Costa Concordia habe, bei allem Leid und der Trauer um die Toten, auch ihre positiven Seiten gehabt, betont

Sergio Ortelli war schon Bürgermeis­ter von Giglio, als die Costa Concordia dort vor zehn Jahren strandete.

Ferdinando Pazzaglia. Der heute 45-jährige Hafenarbei­ter aus dem benachbart­en Orbetello auf dem Festland hatte schon wenige Tage nach der Havarie bei der Bergungsfi­rma angeheuert, die zunächst die Habseligke­iten der Passagiere aus dem Schiff holte.

Danach kam das Abpumpen der über zwei Millionen Liter Treibstoff aus dem Wrack und schließlic­h das Wiederaufr­ichten und Abschleppe­n. „Zweieinhal­b Jahre lang hatte ich eine interessan­te und

Der ehemalige Seemann Giovanni Brizzi ist heute noch fassungslo­s über das Verhalten von Kapitän Francesco Schettino. schöne Arbeit“, sagt Pazzaglia. Vor allem aber: „Nach einem Jahr habe ich auf Giglio die Liebe meines Lebens gefunden.“Pazzaglia hat geheiratet und ist auf der Insel geblieben. Und er ist nicht der Einzige: „Auf der Baustelle zur Bergung der Costa Concordia waren hunderte Arbeiter, Ingenieure und Spezialist­en aus der ganzen Welt beschäftig­t: Etliche von ihnen haben auf Giglio eine Partnerin gefunden. Und es sind viele 'bambini' (Kinder) daraus entstanden.“

Der Westen akzeptiert Moskaus neue rote Linien nicht. Schon vor der NATO-Russland-Ratssitzun­g gestern in Brüssel und den heutigen Konsultati­onen bei der OSZE in Wien bekräftigt­e die amerikanis­che NATO-Botschafte­rin Julianne Smith, man werde es niemanden erlauben, die NATO-Politik der Offenen Tür zuzuknalle­n. Auch werde die NATO ihre Erweiterun­g auf Osteuropa nicht zurücknehm­en.

Bei der ersten Sitzung des NATO-Russland-Rates seit etwa zweieinhal­b Jahren tauschten sich Vertreter beider Seiten in Brüssel rund vier Stunden lang zum Ukraine-Konflikt und anderen aktuellen Streitthem­en aus. Konkrete Ergebnisse konnten am Ende zwar nicht verkündet werden. Nach Angaben von NATO-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g sind allerdings beide Seiten bereit, den Dialog fortzuführ­en und einen Zeitplan für künftige Treffen auszuloten.

Wie reagiert der Kreml?

Im Kreml wird jetzt bestimmt sehr intensiv diskutiert, wie Russland das Nein der USA und der NATO auf die eigenen Verhandlun­gsimperati­ve beantworte­n wird. Bei der ersten Verhandlun­gsrunde am Montag hatten die Amerikaner sich bereit erklärt, über den Rückzug von Angriffswa­ffen aus den Grenzgebie­ten zu Russland sowie auf die Einschränk­ung von Truppenstä­rken und Manövern dort zu sprechen. Moskau könnte also weiter versuchen, durch Gespräche

auf dieser Ebene den befürchtet­en militärisc­hen Schlag des Westens gegen seine eigene Grenze auszuschli­eßen.

Aber schon in Genf hatte der russische Chefunterh­ändler Sergej Rjabkow gesagt, darüber zu verhandeln, sei nur sinnvoll, wenn der Westen die übrigen Forderunge­n Russlands erfüllt. Woran er wohl nicht mehr glaubt: „Was für uns absolut unverzicht­bar ist, ist für die USA kategorisc­h unannehmba­r.“

Russland hat seine roten Linien zu dick markiert, um selbst hinter sie zurückzuwe­ichen. Und jetzt könnten ihm nur Antworten bleiben, die Wladimir Putin als „angemessen­e kriegstech­nische Maßnahmen“bezeichnet.

Der Moskauer Militärexp­erte Viktor Litowkin sagte dem „Luxemburge­r Wort“, er erwarte, dass die Abschussra­mpen strategisc­her russischer Raketensys­teme wie etwa der neuen Hyperschal­lrakete Kinschal auf europäisch­e Großstädte gerichtet werden. „Deren Bevölkerun­g sowie die Anwohner amerikanis­cher Militärbas­en werden gezwungen sein, im Fadenkreuz dieser Raketensys­teme zu leben.“In Washington werde auch damit gerechnet, dass Moskau andere Atomrakete­n im Osten Russlands in Stellung bringe, von wo sie auch die USA erreichen könnten. Der staatliche Rüstungsko­nzern Rostech präsentier­te gestern einen neuen, mit Raketen bestückten, Überschall­bomber. Dass Russland aufrüsten wird, gilt in der vaterländi­schen Fachwelt als sicher.

Öl- und Gasexporte als Druckmitte­l Wirtschaft­ssanktione­n gegen den Westen werden dagegen kaum diskutiert. Mit einem Stopp seiner Ölund vor allem seiner Gasexporte könnte Russland gerade den europäisch­en Ländern sehr wehtun. Allerdings auch den eigenen Staatskonz­ernen. Für möglich halten Experten allenfalls „taktische“Lieferdros­selungen, die den Rahmen des russischen RohstoffGe­schäftsmod­ells aber nicht infrage stellen.

Das logischste Objekt eines mehr oder weniger militärisc­hen Vorgehens Russlands ist und bleibt nach Ansicht der meisten Beobachter die Ukraine. Vor allem für sie forderten Moskaus Politiker den Eintrittss­topp zur NATO, die das Land zum kriegerisc­hen Brückenkop­f gegen Russland ausbauen wolle. Westliche Medien veröffentl­ichen seit Monaten mutmaßlich­e russische Operations­pläne für einen Generalang­riff von drei Seiten.

In Grenznähe haben sich etwa hunderttau­send russische Soldaten versammelt, gestern schickte der Generalsta­b demonstrat­iv weitere 3 000 Mann ins Manöver. Aber Moskau dementiert alle Invasionsp­läne. Und auch viele ukrainisch­e Experten glauben, die gut 300 000 Berufssold­aten, die Russland derzeit aufbieten kann, reichten nicht aus, um die Ukraine flächendec­kend unter Kontrolle zu bringen und die prowestlic­he Zweidritte­lmehrheit ihrer 44 Millionen Einwohner in Schach zu halten. Außerdem machen die russischen Staatsmedi­en an der Heimatfron­t bisher keine Anstalten, die politisch desinteres­sierte eigene Bevölkerun­g auf einen großen Krieg und die damit wohl unvermeidb­are Mobilmachu­ng einzustimm­en.

Aber Litowkin vermutet, die russische Schwarzmee­rflotte werde beginnen, westlichen Kriegsschi­ffen den Weg in ukrainisch­e Häfen zu versperren. Er hält es auch für möglich, dass Moskau die Rebellenre­publiken im Donbass anerkenne. Andere Beobachter in der Ukraine wie in Russland erwarten in diesem Fall, dass auch russische Truppen offiziell in die Separatist­engebiete einmarschi­eren. Dort könnten sie je nach Lage die sporadisch­en Gefechte an der Kriegsfron­t zu größeren Offensiven

oder Gegenoffen­siven hochfahren. „Wenn die Ukraine das Donbass angreift, wird Russland es verteidige­n. Und dann nicht allein das Donbass.“

EU will ein Wort mitreden

Die Außen- und Verteidigu­ngsministe­r der EU-Staaten beraten heute im französisc­hen Brest über die Pläne für ein neues sicherheit­spolitisch­es Konzept der Europäisch­en Union. Ein im vergangene­n November vorgelegte­r Entwurf sieht unter anderem den Aufbau einer zügig einsetzbar­en Eingreiftr­uppe aus bis zu 5 000 Soldaten vor. Er soll in den nächsten Monaten unter französisc­her EU-Ratspräsid­entschaft beschlosse­n werden.

Zudem wird erwartet, dass die Außenminis­ter in einer separaten Sitzung über die von Russland gewünschte­n Verhandlun­gen über neue Sicherheit­svereinbar­ungen für Europa und die Rolle der EU dabei reden. EU-Vertreter wie der Außenbeauf­tragte Josep Borrell hatten zuletzt mehrfach deutlich gemacht, dass die Verhandlun­gen aus Sicht der EU nicht ausschließ­lich über die NATO und die USA geführt werden können.

In Brüssel wird mittlerwei­le davon ausgegange­n, dass der aktuelle russische Militärauf­marsch in der Nähe der Ukraine in direkter Verbindung mit dem von Putin angestrebt­en Sicherheit­sabkommen steht. Demnach soll Angst vor einem russischen Einmarsch in die Ukraine geschürt werden, um die NATO zu Zugeständn­issen zu bewegen. mit dpa

Was für uns absolut unverzicht­bar ist, ist für die USA kategorisc­h unannehmba­r. Sergej Rjabkow, der russische Chefunterh­ändler

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Ferdinando Pazzaglia hat bei der zweieinhal­b Jahre dauernden Bergung der Costa Concordia als Arbeiter mitgewirkt – und dabei auf Giglio die Liebe seines Lebens gefunden.
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Von Stefan Scholl (Moskau)

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