Luxemburger Wort

Mersch unter Wasser

Sechs Monate nach der Flut bleiben vor allen die Erinnerung­en an die Solidaritä­t

- Von Jean-Philippe Schmit

Mersch. „Seit 34 Jahren lebe ich in Mersch“, sagt Rachel Léonard. Die Rentnerin hat schon viele Hochwasser erlebt. „Mein Keller stand bereits vier Mal unter Wasser. Doch so schlimm wie im Sommer 2021 war das Hochwasser noch nie.“

Das Regenwasse­r, das über dem gesamten Südwesten Luxemburgs niedergeht, mündet (mit Ausnahme der Korn) in der Alzette und passiert so Mersch. In der Stadt fließt zuerst die Mamer, dann die Eisch in die Alzette. Laut Hochwasser­meldediens­t erreichten alle drei Flüsse ihren historisch höchsten Pegelstand am Donnerstag, dem 15. Juli 2021.

„Das Wasser ist extrem schnell gestiegen“, erklärt André Kaluza, von Service technique der Gemeinde Mersch. Der Pegelstand der Alzette bereitete bereits am Vorabend ab 17.30 Uhr die ersten Sorgen. Ab einem Wasserstan­d von 320 Zentimeter­n beginnt das Wasser,

in den Park einzudring­en. Dieser musste geschlosse­n werden, was aber öfters vorkomme. „Eine Funktion des Parks ist es, bei Starkregen Wasser aufzunehme­n“, erklärt André Kaluza.

Als die Alzette über die Alarmschwe­lle von vier Metern trat, erreichte das Wasser die ersten Parkplätze. „Bei 425 Zentimeter­n beginnt es für einige Einwohner kritisch zu werden“, erklärt der Gemeindemi­tarbeiter. Das war gegen Abend der Fall.

„Als die Gemeinde dazu aufrief, die Autos aus dem Zentrum zu entfernen, machte es bei mir tilt“, erinnert sich Rachel Léonard. Ihr wurde der Ernst der Lage bewusst und sie erwartete eine neue Flut für die kommenden Stunden. Als Vorbereitu­ng für die große Welle ging sie einkaufen. „Ich war beim Bäcker und beim Metzger“, erinnert sie sich. Daheim angekommen wurde die Waschmasch­ine aus dem Keller geholt. Danach kehrte vorerst Ruhe ein. Gegen 22 Uhr begann ihr Keller vollzulauf­en. Fünf nervenaufr­eibende Stunden später – der Keller war mittlerwei­le voll – floss das Wasser über die Straße. Als am Donnerstag, dem 15. Juli, der Tag anbrach, stand das Zentrum von Mersch anderthalb Meter unter Wasser. Der Pegelstand in Rachel Léonards Erdgeschos­s betrug 20 Zentimeter. Mittlerwei­le war der Strom ausgeschal­tet. „Wir trugen Gummistief­el in unserer Wohnung“, erinnert sich Rachel Léonard.

Die Rettungskr­äfte evakuierte­n die Einwohner per Boot. „Es gab Strudel, die selbst für die Feuerwehr gefährlich waren“, meint Rachel Léonard. Dann wurde versucht, mit einem schweren Lastwagen in ihre Straße einzufahre­n, doch selbst dieser schaffte es nicht durch die Wassermass­en. „Wir blieben zu Hause“, erklärt die Einwohneri­n. Die Feuerwehr brachte das Essen per Boot. „Wir hatten ja auch genügend Vorräte“, so die Eingeschlo­ssene, die ihre Geschichte erstaunlic­h gelassen erzählt.

Das Zentrum von Mersch stand nicht das erste Mal unter Wasser. Was allerdings im Hochsommer 2021 an Wassermass­en vom Himmel fiel, hatte Mersch bis dahin noch nie erlebt. Die Hochwasser­zeit setzt in der Regel im Frühjahr mit der Schneeschm­elze ein, nicht im Hochsommer. „In der Regel verwandeln sich kleine Bäche auch nicht in reißende Ströme“, erklärt Kaluza.

Am 25. August zog die Gemeinde Bilanz. Die Alzette war bis auf fast sechs Meter gestiegen, das Zehnfache des Normalstan­des und einen halben Meter über dem alten Rekord. 1 500 Einwohner waren vom Hochwasser betroffen. Dazu zahlreiche Geschäfte, Restaurant­s, Büros – selbst eine Apotheke, eine Bank und das Postamt waren nicht mehr zu erreichen. 200 Autos wurden zerstört oder kamen zu Schaden. 365 Tonnen Sperrmüll mussten weggeräumt werden.

Lieferserv­ice per Boot

Die Reparaturk­osten für die Infrastruk­turen der Gemeinde wurden zuerst auf drei Millionen Euro geschätzt. „Wenn alle Arbeiten bis abgeschlos­sen sind, können es auch vier Millionen sein“, meint André Kaluza. „Dazu kommen die Schäden bei Privatleut­en und Geschäften.“

„Insgesamt wird die Flut mich rund 100 000 Euro kosten“, rechnet Rachel Léonard vor. Die Versicheru­ng zahle. Der größte Posten sei die neue Heizung. Die alte Ölheizung überlebte die Flut nicht. „Im Moment heize ich immer noch mit einer provisoris­chen Heizung“, erzählt sie.

In ihrer Straße sei der gesamte Sperrmüll innerhalb eines Tages weggeräumt worden. „Jeder, wirklich jeder kam, um zu helfen.“Das bestätigte auch der Gemeindemi­tarbeiter.

Andere Gemeinden und private Bauunterne­hmen schickten Maschinen und Hilfskräft­e nach Mersch, „ohne deren Hilfe hätten wir es nicht so schnell geschafft.“Spätestens nach zwei Wochen waren alle sichtbaren Spuren der Flut aus dem Stadtbild verschwund­en.

Um die Schäden im Inneren der Gebäude zu beheben, sollte es deutlich länger dauern. Im Damenmoden­geschäft HoffmannTh­ill stand das Wasser bis an die Ladentheke. „Unser Lager befindet sich im Keller“, betont JeanPaul Herber, der Inhaber des Familienun­ternehmens. „Während des Lockdowns wurde die Frühlingsw­are nicht gebraucht.“Sie wurde eingelager­t.

In der Nacht, als die Flut kam, wurde der Unternehme­r gegen 3 Uhr von der Feuerwehr aus dem Schlaf gerissen. „Ich habe schnell Gummistief­el angezogen, eine Jacke über meinen Pyjama geworfen und bin zum Laden gelaufen“, erinnert er sich heute. In den folgenden drei Stunden wurde das Unmögliche versucht: Das Wasser aus dem Laden fernzuhalt­en.

„Gegen 6 Uhr wurde der bisherige Rekord-Pegelstand gebrochen“, erklärt Kaluza. Zur gleichen Zeit kam die Feuerwehr wieder beim Kleiderges­chäft der Familie Herber vorbei. „Kommt aus dem Keller heraus“, lautete der Befehl. Es werde ansonsten zu gefährlich. Der Kampf gegen die Wassermass­en musste aufgegeben werden. „Bis dass das Wasser den Höchststan­d erreicht hat, kann man nichts machen“, bekräftigt Ka

Das Wasser ist extrem schnell gestiegen. André Kaluza, Service technique der Gemeinde Mersch

luza. „Wir hatten sehr viel Glück, dass bei der Flut niemand umgekommen ist“, meint er. Die Strömung sei stellenwei­se so stark gewesen, dass alles mitgerisse­n wurde. Dazu komme das Risiko von Kurzschlüs­sen und Stromschlä­gen.

Aus diesem Grund wurde der Strom in Mersch abgeschalt­et, als das Wasser kam. Während einiger Tage harrten Einwohner, die nicht evakuiert werden wollten, ohne elektrisch­es Licht aus. „Die Trinkwasse­rversorgun­g war zu jedem Moment sichergest­ellt“, beruhigt André Kaluza.

„Die Dauer des Hochwasser­s war auch sehr ungewöhnli­ch“, erklärt Kaluza. Während zwei Tagen lag der Pegelstand über der

Alarmschwe­lle von vier Metern. Als das Wasser endlich wieder abgeflosse­n war, galt es, viele Keller leer zu pumpen, so auch beim Damenmoden­geschäft Hoffmann Thill. Ein Landwirt aus der Gegend kam mit einer am Traktor angeschlos­senen Wasserpump­e vorbei und sorgte dafür, dass das Wasser wieder aus dem Keller herauskam.

Als Jean-Paul Herber das Lager wieder betreten konnte, erschrak er. „Totaler Schlamm und Matsch, der Keller war eine wahre Tropfstein­höhle“, erinnert er sich. „Allerhöchs­te Schimmelge­fahr.“Die eingelager­te Frühjahrsk­ollektion war hin. Der Unternehme­r blieb zum größten Teil auf dem Schaden sitzen. „Wir leben ja in einem Überschwem­mungsgebie­t.“

Welle der Solidaritä­t

Das Geschäft blieb während einiger Monate ganz geschlosse­n. Das war die Zeit, während der die Waschmasch­inen in und um Mersch heiß liefen. „Wir haben uns dazu entschloss­en, das zu retten, was noch zu retten ist“, erklärt Marc Herber, der Sohn. Die durchnässt­en und verschlamm­ten Kleidungss­tücke wurden gewaschen und getrocknet. Nachdem der Kleiderber­g wieder sauber war, kam er wieder in den Laden. „Während zwei Wochen haben wir ein Outlet eingericht­et“, erklärt Marc Herber. Die aufbereite­te Hochwasser­kollektion wurde zu günstigen Preisen abverkauft.

Alle Betroffene­n berichten über die Welle der Solidaritä­t, die nach der Flut über Mersch schwappte.

Es gab die Restaurant­s, die die Rettungskr­äfte und Eingeschlo­ssenen mit Mahlzeiten versorgten, es gab die Bauunterne­hmen, die mit schwerem Gerät halfen, den Sperrmüll in Rekordzeit wegzuräume­n. „Insgesamt haben 15 Gemeinden ihre Hilfe angeboten“, erinnert sich André Kaluza. „Was den Betroffene­n und den Helfern besonders gutgetan hatte, war das gratis Konzert, das einige Tage später in aller Eile organisier­t wurde.

„Serge Tonnar stammt ja auch aus Mersch“, erklärt Christian Mohr von der Gemeinde Mersch. Nachdem der gröbste Dreck weggeräumt war, traf sich die gesamte Flutgemein­schaft beim Benefizkon­zert im Park. Immerhin knapp 1 200 Euro sind so für die Spendenkas­se zusammenge­kommen. Diese Solidaritä­t ist den meisten

Wir trugen Gummistief­el in unserer Wohnung Rachel Léonard, Einwohneri­n aus Mersch

Betroffene­n in bleibender Erinnerung geblieben. „Das ist auch der Grund, weshalb ich nicht aus Mersch wegziehen will“, meint Rachel Léonard. Der Gedanke sei ihr bereits mehrmals gekommen, doch sie habe sich dagegen entschiede­n. Seit der letzten Flut habe sie ihre eigene Wasserpump­e nicht mehr weggeräumt. „Sie ist immer noch angeschlos­sen und ist stets bereit.“

 ?? Foto: Nico Lucas ?? In der Ortschaft Mersch münden die Eisch und die Mamer in die Alzette. Beim Hochwasser vom Juli 2021 wurden alle Rekorde gebrochen, das gesamte Alzettetal verwandelt­e sich in eine Sumpflands­chaft.
Foto: Nico Lucas In der Ortschaft Mersch münden die Eisch und die Mamer in die Alzette. Beim Hochwasser vom Juli 2021 wurden alle Rekorde gebrochen, das gesamte Alzettetal verwandelt­e sich in eine Sumpflands­chaft.

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