Luxemburger Wort

„Die Lage ist komplett unberechen­bar“

Jana Puglierin, Expertin für europäisch­e Sicherheit­spolitik, über den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine

- Interview: Diego Velazquez

Jana Puglierin, Chefin des Berliner Büros der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) und Expertin in Sicherheit­s- und Verteidigu­ngspolitik, analysiert in einem Gespräch mit dem „Luxemburge­r Wort“die jüngsten Entwicklun­gen im Russland-UkraineKon­flikt.

Jana Puglierin, Wladimir Putins Forderunge­n sind klar – seine allgemeine Haltung wirkt auch herausford­ernd. Doch was will er genau damit erreichen?

Ich glaube, dass es im letzten Jahr einen Moment gegeben hat, in dem Präsident Putin zu der Überzeugun­g gelangt ist, dass seine Maßnahmen, um die Ukraine im russischen Einflussbe­reich zu halten, nicht ausreichen. Er ist nun wohl der Meinung, dass die Destabilis­ierung in der Ostukraine und die Annexion der Krim nicht genügen, um seine Ziele zu erreichen. Ich glaube, dass das der Grund für die Truppenauf­märsche ist. Damit verfolgt er drei Ziele.

Welche Ziele sind das?

Das erste Ziel ist, die Ukraine als Pufferstaa­t zu definieren – also die Ukraine aus dem westlichen Einflussge­biet herauszusc­hneiden oder davon fernzuhalt­en. Putin will verhindern, dass die Ukraine der NATO beitritt. Darüber hinaus geht es auch um die europäisch­e Sicherheit­sordnung generell, also um sehr grundlegen­de Fragen: Er möchte die NATO auf den Zustand von 1997 zurückschr­umpfen; er möchte die Amerikaner aus Europa herausdrän­gen, um den amerikanis­chen Einfluss auf die Europäer zu verringern. Er will dadurch das Prinzip von Einflusssp­hären in Europa formell etablieren. Drittens geht es auch darum, einen Moment der Schwäche im Westen auszunutze­n. Biden ist innenpolit­isch geschwächt, die neue deutsche Bundesregi­erung sucht sich noch und in Frankreich steht eine Präsidents­chaftswahl an – die Mächte des Nordmandie-Formats sind abgelenkt. Der Zeitpunkt wirkt demnach opportun, um Washington zu testen. Und dann gibt es noch ein weiteres Ziel.

Und zwar ...

Putin will verhindern, dass die Ukraine, weil sie an den Westen angebunden wurde, ein erfolgreic­hes Gegenmodel­l zum russischen autoritäre­n Staat wird. Also, dass es in Kiew bessere Lebensbedi­ngungen gibt als in Moskau; dass die Leute dort mehr Wohlstand und mehr politische Freiheiten als in Russland genießen und dass die Ukraine deswegen ein attraktive­s Modell sein könnte, was nach Russland überschwap­pt.

Wie hoch schätzen Sie die tatsächlic­he Gefahr ein, dass Putin bald in die Ukraine einmarschi­ert?

Ich glaube, es ist komplett unberechen­bar. Viele russische Kollegen sagen mir, dass der Kreml es vielleicht selbst noch nicht so genau weiß. Ein Element ist dabei, dass die faktische Besatzung von

Jana Puglierin leitet das Büro des European Council on Foreign Relations in Berlin.

Teilen der Ostukraine bislang keine wirkliche Erfolgsges­chichte war, denn sie ist mit sehr hohen Kosten verbunden. Und hier wird es auch so sein. Es ist nun einmal sehr teuer, eine Quasi-Besetzung aufrechtzu­erhalten und man holt sich dadurch viele Probleme. Es gibt demnach viele Gründe, warum es für Russland gar nicht so attraktiv ist, einzumarsc­hieren. Es kommt jetzt darauf an, wie die derzeitige­n Gespräche verlaufen.

Apropos. Der Westen versucht derzeit, den diplomatis­chen Weg zu gehen. Was ist Ihr Fazit über die Gespräche, die neulich in Genf, Brüssel und Wien stattgefun­den haben?

Im Prinzip spricht man dabei aneinander vorbei – teilweise auch bewusst. Russland möchte etwas vom Westen, das der Westen nicht bereit ist zu geben und ohnehin auch nicht geben kann. Wenn die NATO zugestehen würde, was Putin fordert, dann ist die NATO tot. Und Putin weiß das. Es stehen sich einfach zwei grundsätzl­ich unterschie­dliche Ideen gegenüber, wie die europäisch­e Sicherheit­sarchitekt­ur aussehen sollte: Auf der einen Seite, die Idee, Einflusszo­nen zu haben, über die die Großmächte entscheide­n, und auf der anderen Seite die Wahlfreihe­it für Bündnisse und die Idee der Souveränit­ät von allen Staaten – nicht nur Russlands. Und in diesen Fragen gibt es kein Grau, auf das man sich einigen könnte. Es ist entweder ganz schwarz oder es ist ganz weiß. Das macht es ja so schwierig.

Gibt es denn eine mögliche Lösung des Konflikts? Rein theoretisc­h gesehen ...

Das Absurde an der Situation ist ja, dass die NATO-Mitgliedsc­haft der Ukraine auf absehbare Zeit überhaupt nicht auf der Agenda stand. Trotzdem kann die NATO die Tür nicht offiziell zuschlagen. Die Ukraine könnte allenfalls von selber sagen, dass sie neutral bleibt. In den USA gibt es vereinzelt Stimmen, allerdings keine offizielle­n, die ein Moratorium vorschlage­n, dass die Ukraine in den nächsten 20 Jahren nicht Mitglied der NATO werden wird. Ich glaube, dass sich seitens der USA wirklich bemüht wird, um etwas zu finden, was die Grundprinz­ipien der europäisch­en Sicherheit­sordnung nicht infrage stellt und von Russland trotzdem als ausreichen­des Zugeständn­is empfunden wird. Aber das ist wahnsinnig schwierig. Eine Eskalation mit Russland ist absolut nicht im Interesse der USA. Es gibt ein wirkliches, ehrliches Bestreben danach, diesen Konflikt diplomatis­ch zu regeln, denn die Amerikaner wollen sich auf Asien konzentrie­ren und nicht mehr Ressourcen nach Europa pumpen.

Die Europäisch­e Union sucht dabei noch ihre Rolle. Der Eindruck ist, dass Amerikaner und Russen auf höchster Ebene über die Zukunft des Kontinents verhandeln, ohne die Europäer am Tisch zu haben. Stimmt dieser Eindruck?

Die EU als Institutio­n ist nicht am Tisch, aber Europäer sitzen ja sowohl im NATO-Russland-Rat als auch bei der OSZE dabei und können sich einbringen. Aber natürlich sieht die russische Seite die bilaterale­n Gespräche mit den Amerikaner­n als das, was ausschlagg­ebend ist. Die Russen sehen es auch als ein amerikanis­ches Zugeständn­is und als einen ihrer Erfolge an, dass die Amerikaner zugestimmt haben, mit ihnen über grundlegen­de Fragen zur Sicherheit­sordnung auf dem europäisch­en Kontinent bilateral zu sprechen. Aber deswegen ist es ja so wichtig, dass die Amerikaner einen „Backchanne­l“mit den Europäern haben. Die Europäer sollten dabei auch entschiede­n auf die Einheit des Westens setzen. Also sich damit zufrieden zu geben, als EU in der zweiten Reihe zu stehen und die europäisch­en Stimmen in der NATO und in der OSZE laut machen und die USA stärken und unterstütz­en.

Diese Abseitssit­uation der EU hat ja auch mit den internen Spaltungen des Staatenbun­des zu tun. Einige EU-Staaten, darunter Deutschlan­d oder Luxemburg, zeigen sich zögerlich im Umgang mit Moskau, weil sie ihre Wirtschaft­sinteresse­n dabei im Auge behalten. Steht das einer kohärenten EU-Politik im Wege?

Russland spaltet die EU auf jeden Fall. Dennoch hat es die EU seit 2014 geschafft, die Sanktionen aufrechtzu­erhalten und demnach relativ geschlosse­n zu stehen. Ich glaube auch, dass sich in den letzten Jahren die Positionen und die Wahrnehmun­gen gegenüber Russland innerhalb der EU angenähert haben. Natürlich wird es immer verschiede­ne Sichtweise­n geben. Ob man Portugal oder Polen ist, hat nun einmal einen Einfluss auf die Wahrnehmun­g von Russland. Das ist ja auch historisch bedingt. Aber dennoch glaube ich, dass sich die Wahrnehmun­gen annähern – und Russland tut auch derzeit sehr viel dafür: Innenpolit­isch führt Putin das Land immer mehr in Richtung totale Autokratie und außenpolit­isch kommt es immer wieder zu Provokatio­nen – auch auf den Staatsgebi­eten der Europäer, wie etwa dem Mordfall im Berliner Tiergarten. Das eint.

Putin will verhindern, dass die Ukraine ein erfolgreic­hes Gegenmodel­l wird.

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Foto: AFP Der Konflikt in der Ostukraine dauert seit 2014 an.
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