„Die Lage ist komplett unberechenbar“
Jana Puglierin, Expertin für europäische Sicherheitspolitik, über den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine
Jana Puglierin, Chefin des Berliner Büros der Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) und Expertin in Sicherheits- und Verteidigungspolitik, analysiert in einem Gespräch mit dem „Luxemburger Wort“die jüngsten Entwicklungen im Russland-UkraineKonflikt.
Jana Puglierin, Wladimir Putins Forderungen sind klar – seine allgemeine Haltung wirkt auch herausfordernd. Doch was will er genau damit erreichen?
Ich glaube, dass es im letzten Jahr einen Moment gegeben hat, in dem Präsident Putin zu der Überzeugung gelangt ist, dass seine Maßnahmen, um die Ukraine im russischen Einflussbereich zu halten, nicht ausreichen. Er ist nun wohl der Meinung, dass die Destabilisierung in der Ostukraine und die Annexion der Krim nicht genügen, um seine Ziele zu erreichen. Ich glaube, dass das der Grund für die Truppenaufmärsche ist. Damit verfolgt er drei Ziele.
Welche Ziele sind das?
Das erste Ziel ist, die Ukraine als Pufferstaat zu definieren – also die Ukraine aus dem westlichen Einflussgebiet herauszuschneiden oder davon fernzuhalten. Putin will verhindern, dass die Ukraine der NATO beitritt. Darüber hinaus geht es auch um die europäische Sicherheitsordnung generell, also um sehr grundlegende Fragen: Er möchte die NATO auf den Zustand von 1997 zurückschrumpfen; er möchte die Amerikaner aus Europa herausdrängen, um den amerikanischen Einfluss auf die Europäer zu verringern. Er will dadurch das Prinzip von Einflusssphären in Europa formell etablieren. Drittens geht es auch darum, einen Moment der Schwäche im Westen auszunutzen. Biden ist innenpolitisch geschwächt, die neue deutsche Bundesregierung sucht sich noch und in Frankreich steht eine Präsidentschaftswahl an – die Mächte des Nordmandie-Formats sind abgelenkt. Der Zeitpunkt wirkt demnach opportun, um Washington zu testen. Und dann gibt es noch ein weiteres Ziel.
Und zwar ...
Putin will verhindern, dass die Ukraine, weil sie an den Westen angebunden wurde, ein erfolgreiches Gegenmodell zum russischen autoritären Staat wird. Also, dass es in Kiew bessere Lebensbedingungen gibt als in Moskau; dass die Leute dort mehr Wohlstand und mehr politische Freiheiten als in Russland genießen und dass die Ukraine deswegen ein attraktives Modell sein könnte, was nach Russland überschwappt.
Wie hoch schätzen Sie die tatsächliche Gefahr ein, dass Putin bald in die Ukraine einmarschiert?
Ich glaube, es ist komplett unberechenbar. Viele russische Kollegen sagen mir, dass der Kreml es vielleicht selbst noch nicht so genau weiß. Ein Element ist dabei, dass die faktische Besatzung von
Jana Puglierin leitet das Büro des European Council on Foreign Relations in Berlin.
Teilen der Ostukraine bislang keine wirkliche Erfolgsgeschichte war, denn sie ist mit sehr hohen Kosten verbunden. Und hier wird es auch so sein. Es ist nun einmal sehr teuer, eine Quasi-Besetzung aufrechtzuerhalten und man holt sich dadurch viele Probleme. Es gibt demnach viele Gründe, warum es für Russland gar nicht so attraktiv ist, einzumarschieren. Es kommt jetzt darauf an, wie die derzeitigen Gespräche verlaufen.
Apropos. Der Westen versucht derzeit, den diplomatischen Weg zu gehen. Was ist Ihr Fazit über die Gespräche, die neulich in Genf, Brüssel und Wien stattgefunden haben?
Im Prinzip spricht man dabei aneinander vorbei – teilweise auch bewusst. Russland möchte etwas vom Westen, das der Westen nicht bereit ist zu geben und ohnehin auch nicht geben kann. Wenn die NATO zugestehen würde, was Putin fordert, dann ist die NATO tot. Und Putin weiß das. Es stehen sich einfach zwei grundsätzlich unterschiedliche Ideen gegenüber, wie die europäische Sicherheitsarchitektur aussehen sollte: Auf der einen Seite, die Idee, Einflusszonen zu haben, über die die Großmächte entscheiden, und auf der anderen Seite die Wahlfreiheit für Bündnisse und die Idee der Souveränität von allen Staaten – nicht nur Russlands. Und in diesen Fragen gibt es kein Grau, auf das man sich einigen könnte. Es ist entweder ganz schwarz oder es ist ganz weiß. Das macht es ja so schwierig.
Gibt es denn eine mögliche Lösung des Konflikts? Rein theoretisch gesehen ...
Das Absurde an der Situation ist ja, dass die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine auf absehbare Zeit überhaupt nicht auf der Agenda stand. Trotzdem kann die NATO die Tür nicht offiziell zuschlagen. Die Ukraine könnte allenfalls von selber sagen, dass sie neutral bleibt. In den USA gibt es vereinzelt Stimmen, allerdings keine offiziellen, die ein Moratorium vorschlagen, dass die Ukraine in den nächsten 20 Jahren nicht Mitglied der NATO werden wird. Ich glaube, dass sich seitens der USA wirklich bemüht wird, um etwas zu finden, was die Grundprinzipien der europäischen Sicherheitsordnung nicht infrage stellt und von Russland trotzdem als ausreichendes Zugeständnis empfunden wird. Aber das ist wahnsinnig schwierig. Eine Eskalation mit Russland ist absolut nicht im Interesse der USA. Es gibt ein wirkliches, ehrliches Bestreben danach, diesen Konflikt diplomatisch zu regeln, denn die Amerikaner wollen sich auf Asien konzentrieren und nicht mehr Ressourcen nach Europa pumpen.
Die Europäische Union sucht dabei noch ihre Rolle. Der Eindruck ist, dass Amerikaner und Russen auf höchster Ebene über die Zukunft des Kontinents verhandeln, ohne die Europäer am Tisch zu haben. Stimmt dieser Eindruck?
Die EU als Institution ist nicht am Tisch, aber Europäer sitzen ja sowohl im NATO-Russland-Rat als auch bei der OSZE dabei und können sich einbringen. Aber natürlich sieht die russische Seite die bilateralen Gespräche mit den Amerikanern als das, was ausschlaggebend ist. Die Russen sehen es auch als ein amerikanisches Zugeständnis und als einen ihrer Erfolge an, dass die Amerikaner zugestimmt haben, mit ihnen über grundlegende Fragen zur Sicherheitsordnung auf dem europäischen Kontinent bilateral zu sprechen. Aber deswegen ist es ja so wichtig, dass die Amerikaner einen „Backchannel“mit den Europäern haben. Die Europäer sollten dabei auch entschieden auf die Einheit des Westens setzen. Also sich damit zufrieden zu geben, als EU in der zweiten Reihe zu stehen und die europäischen Stimmen in der NATO und in der OSZE laut machen und die USA stärken und unterstützen.
Diese Abseitssituation der EU hat ja auch mit den internen Spaltungen des Staatenbundes zu tun. Einige EU-Staaten, darunter Deutschland oder Luxemburg, zeigen sich zögerlich im Umgang mit Moskau, weil sie ihre Wirtschaftsinteressen dabei im Auge behalten. Steht das einer kohärenten EU-Politik im Wege?
Russland spaltet die EU auf jeden Fall. Dennoch hat es die EU seit 2014 geschafft, die Sanktionen aufrechtzuerhalten und demnach relativ geschlossen zu stehen. Ich glaube auch, dass sich in den letzten Jahren die Positionen und die Wahrnehmungen gegenüber Russland innerhalb der EU angenähert haben. Natürlich wird es immer verschiedene Sichtweisen geben. Ob man Portugal oder Polen ist, hat nun einmal einen Einfluss auf die Wahrnehmung von Russland. Das ist ja auch historisch bedingt. Aber dennoch glaube ich, dass sich die Wahrnehmungen annähern – und Russland tut auch derzeit sehr viel dafür: Innenpolitisch führt Putin das Land immer mehr in Richtung totale Autokratie und außenpolitisch kommt es immer wieder zu Provokationen – auch auf den Staatsgebieten der Europäer, wie etwa dem Mordfall im Berliner Tiergarten. Das eint.
Putin will verhindern, dass die Ukraine ein erfolgreiches Gegenmodell wird.