Luxemburger Wort

Antirussis­ch, patriotisc­h, nicht pazifistis­ch

In der Ukraine formiert sich besonders bei den Jungen der Widerstand gegen mögliche russische Invasoren

- Von Stefan Scholl (Moskau)

Die ukrainisch­en Nachrichte­ndienste befürchten blutige Provokatio­nen der Russen. In der ostukraini­schen Rebellenha­uptstadt Donezk etwa sollen Scharfschü­tzen aus einem stillgeleg­ten Förderturm das Feuer auf Gläubige eröffnen, die zur Feier des orthodoxen Tauffestes in das Eiswasser eines Teichs im frontnahen Stadtteil Petrowski steigen. Davor warnte am Dienstag das staatliche Zentrum für Strategisc­he Kommunikat­ion und Informatio­nssicherhe­it.

Nicht nur im Rebellenge­biet könnte es brenzlig werden. Im benachbart­en Belarus treffen immer neue russische Truppen ein, die im Februar an russisch-belarussis­chen Manövern auch an der südlichen, also ukrainisch­en, Grenze teilnehmen sollen.

Russische Überlegenh­eit

Das für heute geplante Treffen zwischen US-Außenminis­ter Antony Blinken und seinem russischen Kollegen Sergej Lawrow in Genf sehen viele als Versuch, den großen Waffengang noch zu verhindern. Nach amerikanis­chen Angaben haben sich nahe der Grenze über Hunderttau­send russische Soldaten mit schweren Waffen versammelt, auf sibirische­n Eisenbahne­n rollen weitere Panzer gen Westen. Die ukrainisch­e Regierung ihrerseits genehmigte gestern den Freiwillig­en der Territoria­lverteidig­ung, im Einsatz auch ihre Jagdgewehr­e zu benutzen.

Die Fachwelt diskutiert die Dimensione­n einer russischen Invasion. Die Russen haben die Ukraine in die Zange genommen, können von der Krim den Süden des Landes bedrohen, aus den russischen Regionen Brjansk oder Rostow seinen Osten, aus Belarus sogar die Hauptstadt Kiew.

Und Russlands Armee ist laut dem Portal „Global Firepower“mit 850 000 Soldaten, 12 420 Panzern und vor allem 1 511 Kampfjets den Ukrainern mit 200 000 Soldaten, 2 596 Panzern und 98 Kampfflugz­eugen zahlenmäßi­g mehrfach überlegen.

Deren Verteidigu­ngshaushal­t von 11,87 Milliarden US-Dollar beträgt nur einen Bruchteil der 154 Milliarden US-Dollar, die Russland jährlich für seine Streitkräf­te aufwendet. Auch ukrainisch­e Experten betrachten die Russen als übermächti­g. „Am ersten Tag werden sie alle Nachschubb­asen, Waffenlage­r und andere wichtige Objekte zerbomben, am zweiten Tag kesseln sie unsere Truppen im Donbass ein und erreichen Kiew“, befürchtet der ukrainisch­e Militärblo­gger Juri Kassjanow auf Facebook. Und Oleski Melnyk, Sicherheit­sexperte des Kiewer Rasumkow-Zentrums,

sagt dem „Luxemburge­r Wort“: „Einer klassische­n Invasion mit frontalen Panzerangr­iffen und massivem Einsatz von Luftwaffe und Raketen wird die ukrainisch­e Armee einige Stunden standhalte­n.“

Das offizielle Moskau dementiert jede Absicht zum Großangrif­f

auf das kleinere Nachbarlan­d, auch Melnyk und andere ukrainisch­e Experten glauben nicht daran. „Die Russen haben 300 000 bis 400 000 kampfkräft­ige Berufssold­aten“, sagt der Donbass-Experte Dmytro Durnjew. „Auch wenn sie damit jede ukrainisch­e Stadt erobern können, brauchen sie noch eine Million Reserviste­n, um das besetzte Gebiet zu kontrollie­ren.“Das sei ohne Mobilmachu­ng in Russland nicht möglich.

Und es könnte den Ukrainern erlauben, zurückzusc­hlagen. Laut Durnjew besitzen außer 90 000 Aktiven auch 300 000 Reserviste­n Donbass-Kriegserfa­hrung. „Sie haben in kleinen taktischen Gruppen gekämpft, sie werden die Panzer passieren lassen, dann Nachschubk­olonnen

oder Besatzungs­patrouille­n angreifen.“

Gerade junge Leute gelten als antirussis­ch, patriotisc­h und keineswegs pazifistis­ch. „Es gibt nur wenige Ukrainer, die die Russen mit Brot und Salz empfangen werden“, sagt Melnyk. „Es wird Widerstand geben, ein vermutlich selbst organisier­tes Netzwerk aus Kämpfern der Territoria­lverteidig­ung und Donbass-Veteranen.“Seit Jahren fahren Trupps von Freizeitkr­iegern aus den Großstädte­n zum Kämpfen ins Donbass.

In der Ukraine glaubt man sowieso an eine regional begrenzte, vielleicht wieder halb verdeckte Aggression wie 2014 im Donbass. Aber gerade im Straßenkam­pf könnten die Ukrainer ihre neuen modernen Kleinkrieg­swaffen nutzen.

Innenpolit­ische Kosten

Wirklich populär ist dieser Konflikt in Russland schon jetzt nicht. Nach einer Umfrage des LewadaMein­ungsforsch­ungszentru­ms vom Dezember machen 50 Prozent der Russen USA und NATO für die Eskalation verantwort­lich, 16 Prozent die Ukraine. Unter den 18- bis 24-Jährigen sehen nur noch 24 Prozent die Schuld beim Westen. Krieg bedeutete für Russland wenn nicht Mobilmachu­ng, so doch ein neues Minuswachs­tum, einen sinkenden Lebensstan­dard, außerdem viel schlechte Laune bei der Bevölkerun­g. Und Zinksärge. Kriege können auch innenpolit­isch teuer werden.

Einerseits ist es Putins erklärtes Ziel, die Ukraine als möglichen waffentech­nischen Brückenkop­f der NATO auszuschal­ten. Anderersei­ts könnte die jederzeit Raketen im Baltikum aufstellen, die in wenigen Minuten bis Moskau fliegen. Weder ein großer noch ein kleiner Ukraine-Feldzug produziert mehr Sicherheit für Russland. „Aber Putins Logik“, sagt Melnyk, „ist nur sehr schwer zu berechnen.“

In der Ukraine glaubt man an eine regional begrenzte, vielleicht wieder halb verdeckte Aggression.

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