Antirussisch, patriotisch, nicht pazifistisch
In der Ukraine formiert sich besonders bei den Jungen der Widerstand gegen mögliche russische Invasoren
Die ukrainischen Nachrichtendienste befürchten blutige Provokationen der Russen. In der ostukrainischen Rebellenhauptstadt Donezk etwa sollen Scharfschützen aus einem stillgelegten Förderturm das Feuer auf Gläubige eröffnen, die zur Feier des orthodoxen Tauffestes in das Eiswasser eines Teichs im frontnahen Stadtteil Petrowski steigen. Davor warnte am Dienstag das staatliche Zentrum für Strategische Kommunikation und Informationssicherheit.
Nicht nur im Rebellengebiet könnte es brenzlig werden. Im benachbarten Belarus treffen immer neue russische Truppen ein, die im Februar an russisch-belarussischen Manövern auch an der südlichen, also ukrainischen, Grenze teilnehmen sollen.
Russische Überlegenheit
Das für heute geplante Treffen zwischen US-Außenminister Antony Blinken und seinem russischen Kollegen Sergej Lawrow in Genf sehen viele als Versuch, den großen Waffengang noch zu verhindern. Nach amerikanischen Angaben haben sich nahe der Grenze über Hunderttausend russische Soldaten mit schweren Waffen versammelt, auf sibirischen Eisenbahnen rollen weitere Panzer gen Westen. Die ukrainische Regierung ihrerseits genehmigte gestern den Freiwilligen der Territorialverteidigung, im Einsatz auch ihre Jagdgewehre zu benutzen.
Die Fachwelt diskutiert die Dimensionen einer russischen Invasion. Die Russen haben die Ukraine in die Zange genommen, können von der Krim den Süden des Landes bedrohen, aus den russischen Regionen Brjansk oder Rostow seinen Osten, aus Belarus sogar die Hauptstadt Kiew.
Und Russlands Armee ist laut dem Portal „Global Firepower“mit 850 000 Soldaten, 12 420 Panzern und vor allem 1 511 Kampfjets den Ukrainern mit 200 000 Soldaten, 2 596 Panzern und 98 Kampfflugzeugen zahlenmäßig mehrfach überlegen.
Deren Verteidigungshaushalt von 11,87 Milliarden US-Dollar beträgt nur einen Bruchteil der 154 Milliarden US-Dollar, die Russland jährlich für seine Streitkräfte aufwendet. Auch ukrainische Experten betrachten die Russen als übermächtig. „Am ersten Tag werden sie alle Nachschubbasen, Waffenlager und andere wichtige Objekte zerbomben, am zweiten Tag kesseln sie unsere Truppen im Donbass ein und erreichen Kiew“, befürchtet der ukrainische Militärblogger Juri Kassjanow auf Facebook. Und Oleski Melnyk, Sicherheitsexperte des Kiewer Rasumkow-Zentrums,
sagt dem „Luxemburger Wort“: „Einer klassischen Invasion mit frontalen Panzerangriffen und massivem Einsatz von Luftwaffe und Raketen wird die ukrainische Armee einige Stunden standhalten.“
Das offizielle Moskau dementiert jede Absicht zum Großangriff
auf das kleinere Nachbarland, auch Melnyk und andere ukrainische Experten glauben nicht daran. „Die Russen haben 300 000 bis 400 000 kampfkräftige Berufssoldaten“, sagt der Donbass-Experte Dmytro Durnjew. „Auch wenn sie damit jede ukrainische Stadt erobern können, brauchen sie noch eine Million Reservisten, um das besetzte Gebiet zu kontrollieren.“Das sei ohne Mobilmachung in Russland nicht möglich.
Und es könnte den Ukrainern erlauben, zurückzuschlagen. Laut Durnjew besitzen außer 90 000 Aktiven auch 300 000 Reservisten Donbass-Kriegserfahrung. „Sie haben in kleinen taktischen Gruppen gekämpft, sie werden die Panzer passieren lassen, dann Nachschubkolonnen
oder Besatzungspatrouillen angreifen.“
Gerade junge Leute gelten als antirussisch, patriotisch und keineswegs pazifistisch. „Es gibt nur wenige Ukrainer, die die Russen mit Brot und Salz empfangen werden“, sagt Melnyk. „Es wird Widerstand geben, ein vermutlich selbst organisiertes Netzwerk aus Kämpfern der Territorialverteidigung und Donbass-Veteranen.“Seit Jahren fahren Trupps von Freizeitkriegern aus den Großstädten zum Kämpfen ins Donbass.
In der Ukraine glaubt man sowieso an eine regional begrenzte, vielleicht wieder halb verdeckte Aggression wie 2014 im Donbass. Aber gerade im Straßenkampf könnten die Ukrainer ihre neuen modernen Kleinkriegswaffen nutzen.
Innenpolitische Kosten
Wirklich populär ist dieser Konflikt in Russland schon jetzt nicht. Nach einer Umfrage des LewadaMeinungsforschungszentrums vom Dezember machen 50 Prozent der Russen USA und NATO für die Eskalation verantwortlich, 16 Prozent die Ukraine. Unter den 18- bis 24-Jährigen sehen nur noch 24 Prozent die Schuld beim Westen. Krieg bedeutete für Russland wenn nicht Mobilmachung, so doch ein neues Minuswachstum, einen sinkenden Lebensstandard, außerdem viel schlechte Laune bei der Bevölkerung. Und Zinksärge. Kriege können auch innenpolitisch teuer werden.
Einerseits ist es Putins erklärtes Ziel, die Ukraine als möglichen waffentechnischen Brückenkopf der NATO auszuschalten. Andererseits könnte die jederzeit Raketen im Baltikum aufstellen, die in wenigen Minuten bis Moskau fliegen. Weder ein großer noch ein kleiner Ukraine-Feldzug produziert mehr Sicherheit für Russland. „Aber Putins Logik“, sagt Melnyk, „ist nur sehr schwer zu berechnen.“
In der Ukraine glaubt man an eine regional begrenzte, vielleicht wieder halb verdeckte Aggression.