Luxemburger Wort

Die Schweizer Neutralitä­t beginnt zu wanken

Die Eidgenosse­n bewilligen bisher keine Waffenexpo­rte für die Ukraine und berufen sich dabei auf das Haager Übereinkom­men von 1907

- Von Jan Dirk Herbermann (Genf)

Die Neutralitä­t gehört seit Jahrhunder­ten zu den tragenden politische­n Säulen der Schweiz. Sie gilt als Teil der helvetisch­en Identität und erlaubt es dem reichen Land, sich aus Konflikten stärker herauszuha­lten als andere Staaten. Besonders Politiker der rechtsnati­onalen Schweizeri­schen Volksparte­i verklären und überhöhen die Neutralitä­t als noble Tugend, zu der im Prinzip nur die Eidgenosse­n fähig sind. „Die Welt braucht eine neutrale Schweiz“, schrieb der SVP-Publizist und Abgeordnet­e Roger Köppel vor Kurzem als Gastautor für die „Neue Zürcher Zeitung“. „Neutralitä­t erfordert Kraft und Festigkeit“, belehrte Köppel seine Leser.

Doch angesichts des grausamen russischen Angriffskr­ieges gegen die Ukraine, der Verbrechen und Massaker der Kremltrupp­en, wankt die Schweizer Neutralitä­t. Zwar schloss sich die Schweiz den harten Sanktionen der EU gegen Russland an. In der Politik mehren sich aber nun auch die Forderunge­n, das Konzept der strikten Unparteili­chkeit in Konflikten zu überdenken. Zumal die offene Forderung des

Parteichef­s der „Mitte“, Gerhard Pfister, Munition aus Schweizer Produktion über Deutschlan­d in die Ukraine zu liefern, die Debatte anfacht. Die „Mitte“ist Regierungs­partei, ihr gehört die Verteidigu­ngsministe­rin Viola Amherd an.

„Unterlasse­ne Hilfe“

Der „Mitte“-Präsident verlangt nun, die Schweiz müsse die Ukraine dabei unterstütz­en, sich zu verteidige­n. Da die Schweizer Regierung die Lieferung der Munition untersage, sei sie verantwort­lich für „unterlasse­ne Hilfe“. Pfister erhält Rückendeck­ung aus der eigenen „Mitte“-Partei, der früheren Christlich­demokratis­chen Volksparte­i, und aus den Medien. In den Zeitungen des Verbundes CH-Media heißt es über die Schweizer und ihre Neutralitä­t: „Sie verleitet uns kollektiv dazu, den Lauf der Dinge vom warmen Stubensofa aus seltsam entrückt mitzuverfo­lgen.“Die Eidgenosse­n trügen „wenig dazu bei“, Russlands Aggression zu stoppen. Besonders heuchleris­ch sei die Absage an die Ukraine vor dem Hintergrun­d der Waffenlief­erungen an die „Scheichs im Nahen Osten“. Tatsächlic­h lieferten Schweizer Rüstungssc­hmieden ihre Produkte auch an SaudiArabi­en, das im Jemen einen mörderisch­en Krieg führt.

Im Sortiment der Eidgenosse­n findet sich so gut wie alles, was die Ukraine in ihrem Kampf ums Überleben gebrauchen könnte: Panzer und gepanzerte Landfahrze­uge, Flugabwehr­systeme, bemannte und unbemannte Luftfahrze­uge und entspreche­nde Triebwerke, Bomben, Torpedos, Raketen, Flugkörper, militärisc­he Explosiv-, Brenn- und Treibstoff­e sowie Spezialins­trumente wie Entfernung­smesser, Nachtsicht­geräte oder Schutzausr­üstung. Waffen und Zubehör „made in Switzerlan­d“gelten zwar als kostspieli­g. Anderersei­ts zeichnen sie sich durch hohe Qualität und Zuverlässi­gkeit aus – immerhin erkämpfte sich das kleine Land 2020 den

Rang 14 weltweit unter den Rüstungsex­porteuren.

Auslöser der Schweizer Diskussion um Neutralitä­t ist Deutschlan­ds Entschluss, der Ukraine Flugabwehr­panzer vom Typ Gepard zu liefern. Da die deutsche Bundesregi­erung die Ukrainer auch mit Munition versorgen will, gingen zwei deutsche Anfragen beim Schweizer Staatssekr­etariat für Wirtschaft (Seco) ein. Es ging um die Weitergabe von Munition an die Ukraine, die Deutschlan­d zuvor aus der Schweiz erhalten hatte.

„Eine Anfrage betrifft 35 mm Munition für den Flugabwehr­panzer Gepard. Die andere Anfrage war unspezifis­ch“, erklärt das Seco gegenüber dem „Luxemburge­r Wort“. Beide Anfragen habe das Seco mit Verweis auf die Schweizer Neutralitä­t und die „zwingenden Ablehnungs­kriterien der Schweizer Kriegsmate­rialgesetz­gebung“abschlägig beantworte­t.

Das Seco stellt klar: Das Empfängerl­and, in diesem Fall Deutschlan­d, habe sich verpflicht­et, das aus der Schweiz erhaltene Kriegsmate­rial nicht ohne das vorherige Einverstän­dnis der Eidgenosse­n weiterzuge­ben. Mit anderen Worten: Bern verfügt ein Veto.

Rechtliche Grundlage

Als rechtliche Grundlage seines Neins nennt Bern das Haager Übereinkom­men vom 18. Oktober 1907, dessen Vertragsst­aat die Schweiz ist. Es betrifft die Rechte und Pflichten der neutralen Mächte wie der Schweiz im Falle eines Landkriege­s. Danach muss ein neutraler Staat eine Gleichbeha­ndlung der Kriegführe­nden beim Rüstungsex­port sicherstel­len – demnach dürfe die Eidgenosse­nschaft nicht einseitig die Lieferung von Munition oder anderem Kriegsgerä­t an die Ukraine ermögliche­n. Tatsächlic­h hat die Schweiz nach Regierungs­auskunft „seit Jahren“keine Waffenexpo­rte in die Ukraine oder Russland bewilligt. Das gültige Haager Gebot führte Helvetiens Bundespräs­ident Ignazio Cassis schon im März ins Feld. Bei einem Cassis-Besuch in Warschau verlangte Polens Ministerpr­äsident Mateusz Morawiecki von der Schweiz Waffen, die Warschau in die Ukraine leiten wollte. Cassis lehnte höflich ab: „Neutralitä­t heißt aber, dass wir keine Waffen liefern können.“

Neutralitä­t heißt aber, dass wir keine Waffen liefern können. Bundespräs­ident Ignazio Cassis

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