Eine kleine Revolution
In Nordirland hat eine kleine Revolution stattgefunden. Zum ersten Mal seit der zum Vereinigten Königreich gehörende Landesteil vor einem Jahrhundert von der damals neu gegründeten Republik Irland abgespalten wurde, ist eine auf Wiedervereinigung ausgerichtete Partei bei den Regionalwahlen zur stärksten politischen Kraft geworden. Der Wahlsieger, die katholisch-republikanische Sinn Féin, fordert nun den Posten des Regierungschefs, der im vergangenen Vierteljahrhundert stets von einem Vertreter des protestantisch-unionistischen Lagers besetzt wurde. Stehen jetzt also alle Zeichen unmittelbar auf Wiedervereinigung? Mitnichten, wenn man den Wahlsieg von Sinn Féin, die lange Jahre als der „politische Arm“der IRA bezeichnet wurde, etwas näher analysiert.
Zwar wirbt Sinn Féin für eine offene Debatte und die Festlegung eines Referendum-Termins, um von den Bürgern klären zu lassen, ob sich Nordirland mit der Republik im Süden vereinigen soll. Im Vordergrund des Wahlkampfs standen aber soziale Themen wie die steigenden Lebenshaltungskosten, die Gesundheitsversorgung und die Wohnungsnot. Außerdem ist eine Wiedervereinigung laut rezenten Umfragen zurzeit von nicht einmal einem Drittel der Nordiren erwünscht. Priorität hat das Thema sogar nur für jeden sechsten Nordiren.
Und das Ansetzen einer Volksabstimmung würde laut Karfreitagsabkommen, mit dem 1998 drei Jahrzehnte Bürgerkrieg beendet wurden, der Regierung in London obliegen. Diese darf sich dem Ansinnen zwar nicht verwehren, wenn es Aussicht auf Erfolg hat. Doch aus dem Wahlsieg von Sinn Féin lässt sich das nicht ableiten. Denn selbst als stärkste Partei repräsentiert sie nicht mehr als ein Viertel der Wähler. Sinn Féin konnte insgesamt nur einen Prozentpunkt hinzugewinnen und bleibt unverändert bei 27 Sitzen.
Umgekehrt musste die bisher stärkste politische Kraft, die protestantisch-unionistische Democratic Unionist Party (DUP), zwar herbe Verluste einstecken. Doch die DUP, die sich mit ihrem bedingungslosen Einsatz für den Brexit verkalkuliert hat und dafür einen Denkzettel bekam, hat vor allem Wähler an die radikale Abspaltung Traditional Unionist Voice (TUV) verloren, nicht an das Lager der Befürworter einer Wiedervereinigung. Die DUP bleibt das Zünglein an der Waage. Denn ohne sie als stärkste Vertretung des unionistischen Lagers kann es keine neue Regierung geben. Das Karfreitagsabkommen sieht nämlich vor, dass die größte Partei eine Koalition mit der größten Partei des rivalisierenden Lagers bilden muss. Die DUP, die bereits angekündigt hat, einer Regierung aus Protest gegen den Brexit-Sonderstatus von Nordirland nicht beitreten zu wollen, könnte also mit einer bloßen Weigerung Sinn Féin am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Ohne Einigung käme es nach sechs Monaten zu Neuwahlen.
Ohnehin ist die erstmalige Aussicht von Sinn Féin auf den Posten des „First Minister“mehr symbolischer Natur, da der Stellvertreter dem Regierungschef de facto gleichgestellt ist. Ein zeitnahes Referendum zur Wiedervereinigung der Republik Irland mit Nordirland ist daher mehr als fraglich. Am Ende ist der Wahlsieg von Sinn Féin doch nur eine kleine Revolution auf der irischen Insel, keine große.
Ein zeitnahes Referendum zur Wiedervereinigung ist mehr als fraglich.