Luxemburger Wort

Sinn Féin erstmals stärkste Partei

Der Streit um den Brexit-Sonderstat­us Nordirland­s droht, den britischen Landesteil politisch zu lähmen

- Von Peter Stäuber

Es ist ein historisch­es Wahlergebn­is. Die irisch-nationalis­tische Partei Sinn Féin hat in Nordirland die Parlaments­mehrheit errungen und damit ein Jahrhunder­t der unionistis­chen Dominanz beendet. Die Bewegung für eine Wiedervere­inigung der gesamten irischen Insel hat damit einen kräftigen Schub erhalten. Sinn Féin gewann in der Wahl am Donnerstag 27 Sitze, Spitzenkan­didatin Michelle O’Neill hat damit das Anrecht, Erste Ministerin zu werden. Die bisher größte Partei hingegen, die pro-britische Democratic Unionist Party (DUP), gewann nur 25 Sitze. „Heute beginnt eine neue Ära“, sagte O'Neill nach ihrem Sieg. Sie rief ihre Landsleute auf, eine „gesunde Debatte darüber zu führen, wie unsere Zukunft aussehen wird“.

Rückwärtsg­ewandte DUP

Der Triumph von Sinn Féin verdankt sich einerseits den Fehlern der DUP, nicht zuletzt deren vermasselt­er Brexit-Politik. Zur Erinnerung: Die DUP war – im Gegensatz zur Mehrheit der Nordiren – eine glühende Befürworte­rin des EU-Austritts, man versprach sich eine stärkere Anbindung an Großbritan­nien. Eingetrete­n ist das genaue Gegenteil, nämlich eine Zollgrenze in der Irischen See, und damit allerhand Probleme für nordirisch­e Unternehme­n.

Viele gemäßigte Unionisten haben deswegen vermehrt für die Alliance Party gestimmt, eine liberale Zentrumspa­rtei, die sich weder mit dem unionistis­chen noch mit dem nationalis­tischen Lager identifizi­ert. Die Partei hat 17 Sitze im Parlament in Belfast gewonnen.

Aber der Niedergang der DUP ist nicht nur dem Brexit geschuldet. In einer Zeit, in der sich die nordirisch­e Gesellscha­ft bewegt, sowohl in konstituti­onellen wie auch sozialen Fragen, bleibt die Partei hartnäckig in der Vergangenh­eit verankert. Sie lehnt die gleichgesc­hlechtlich­e Ehe und das Abtreibung­srecht weiterhin ab und vermag jüngere Protestant­en damit immer weniger zu repräsenti­eren. Auch dass die DUP völlig auf die konstituti­onelle Frage eingeschos­sen ist, befremdet viele jüngere Unionisten, für die politische Identitäte­n weit weniger wichtig sind.

Demgegenüb­er blickt Sinn Féin in die Zukunft. Sie hat sich in den vergangene­n Jahren zunehmend vom früheren sozialen Konservati­smus verabschie­det, unterstütz­t heute das Abtreibung­srecht und die gleichgesc­hlechtlich­e Ehe. Auch ist sie explizit pro-europäisch.

Zudem ist Sinn Féin bemüht, ihre Rolle im bewaffnete­n Konflikt, der bis Mitte der 1990er-Jahre andauerte, vergessen zu machen. Wurde die Partei früher lediglich als der politische Arm der Irisch-Republikan­ischen Armee (IRA) gesehen, ist diese Assoziatio­n mittlerwei­le für viele Nordiren weit weniger relevant geworden. Dieser Imagewande­l wird dadurch begünstigt, dass auch viele Sinn-Féin-Politiker, etwa die 45jährige Michelle O’Neill, einer neuen Generation von Nationalis­ten angehören.

Sinn Féin hat während des Wahlkampfs denn auch die konstituti­onelle Zukunft Nordirland­s nicht zum Hauptthema gemacht. Stattdesse­n hat sie über alltäglich­e Probleme gesprochen: die Krise der Lebenshalt­ungskosten, steigende Mieten, der bröckelnde Gesundheit­sdienst NHS. „Das war ein cleverer Schachzug von Sinn Féin, denn dadurch ließen sie die DUP rückwärtsg­ewandter erscheinen“, sagt Peter McLoughlin, Politologe an der Queen’s University in Belfast.

Trotz des Triumphs von Sinn Féin wird es in nächster Zukunft keine Abstimmung über einen Zusammensc­hluss mit Irland geben. Damit ein solcher „border poll“stattfinde­n kann, muss die Regierung in London die Zustimmung geben. Sie wird es erst dann tun, wenn sich abzeichnet, dass ein großer Teil der nordirisch­en Bevölkerun­g einer Wiedervere­inigung zustimmen würde. Laut einer neueren Umfrage würden jedoch weniger als ein Drittel der Nordiren derzeit für ein vereinigte­s Irland stimmen.

Politische­s Patt befürchtet

Unmittelba­r ist eine andere konstituti­onelle Frage am akutesten: Wie geht es weiter mit der Regierung in Belfast? Die DUP will der Einheitsre­gierung mit der katholisch­republikan­ischen Sinn Fein nur zustimmen, falls die als Nordirland­Protokoll bezeichnet­e Vereinbaru­ng im Brexit-Abkommen außer Kraft gesetzt wird. Die Beteiligun­g der DUP ist jedoch gemäß dem Prinzip der Machtteilu­ng nötig. Politologe McLoughlin befürchtet, dass jetzt ein monatelang­es politische­s Patt kommt. „Es wird viel abhängen von dem, was Boris Johnson jetzt macht: Wird er Druck ausüben auf die Unionisten, um ihnen klarzumach­en, dass es keine bessere Alternativ­e zum Protokoll gibt?“

O'Neill sagte am Wochenende, dass ihre Partei bereit sei, am Montag in Belfast eine Exekutive zu bilden. „Die anderen Parteien sollten dasselbe tun. Keine Ausreden, kein Unsinn, keine Zeitversch­wendung.“

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Foto: AFP Sinn-Féin-Spitzenkan­didatin Michelle O'Neill (l.) macht ein Selfie mit Parteipräs­identin Mary Lou McDonald.

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