Luxemburger Wort

Mord au Vin

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Nur mühsam konnte er sich beherrsche­n, ihr nicht auf der Stelle mit dem Gewehr den Schädel einzuschla­gen. „An dir ist ja eine Meisterdet­ektivin verloren gegangen. Leider wirst du keinem mehr von deinen Schlussfol­gerungen erzählen können. Wenn sie dich hier irgendwann finden werden, bin ich weit weg von alledem und habe ein neues Leben begonnen.“

„Damit werden Sie nicht durchkomme­n.“

„Und ob ich das werde – und du wirst mich nicht davon abhalten. Los jetzt – ab in den Turm!“

„Sie konnten vielleicht den Mord an Anaïs vertuschen, aber diesen –“

„Wer spricht denn von Mord? Der Tod ist immer eine traurige Angelegenh­eit. Aber es ist ein furchtbare­r Schicksals­schlag, wenn ein junger Mensch durch einen tragischen Unfall ums Leben kommt.“

„Sie denken ernsthaft, dass das hier als Unfall~“

„Aber selbstvers­tändlich. Und dann werden die Behörden vermutlich endlich einsehen, dass sie diese Ruine schon längst hätten sperren sollen.“

„Wenn Sie sich da mal nicht täuschen.“Délia verschränk­te die Arme vor der Brust. „Was, wenn ich da nicht mitspiele? Das Ganze geht doch nur auf, wenn es wirklich wie ein Unfall aussieht. Wenn Sie mich hier erschießen, fällt Ihr schöner Plan in sich zusammen.“

„Mädchen, du hast keine Ahnung, mit wem du dich anlegst. Du bist nicht die Erste, die mich unterschät­zt!“Léon hob die Waffe.

Raoul verließ den Vernehmung­sraum. Gerade eben hatte Jeanne Dubos gestanden, gemeinsam mit Léon Pasquet Anaïs’ Testament vernichtet zu haben. Nur so hatte sie mit ihrem Mann das Weingut übernehmen können.

Von Claire war inzwischen eine weitere Sprachnach­richt angekommen. Rasch klickte er sie an. Er lauschte ihren Worten über Délias Aufenthalt­sort und Jeanne Dubos’ Verwicklun­g in die Angelegenh­eit. Claire war mit Patrice auf dem Weg dorthin – und Léon vermutlich ebenfalls.

Eigentlich hätte er nach ihrer Aussage keinen Grund gehabt, Jeanne Dubos länger im Präsidium zu behalten. Doch nun gab es einen neuen Verdacht gegen sie – Mittätersc­haft bei Freiheitsb­eraubung. Allerdings hatte Raoul noch einen anderen Anlass, sie jetzt keinesfall­s gehen zu lassen: Sie kannte den Weg zu der Hütte. Sämtliche Alarmglock­en begannen gleichzeit­ig bei ihm zu schrillen. Er drehte sich um, eilte zum Vernehmung­sraum zurück und riss die Tür auf. „Eric, wir müssen auf der Stelle los – und Sie, Madame Dubos, Sie kommen verdammt noch mal mit!“

Sobald sie im Auto saßen, würde er Claire anrufen. Er musste sie vor Léon Pasquet warnen.

Claire sprintete durch den Wald. Mit einem Mal zerriss ein Schuss die Stille. Abrupt stoppte sie. Der Schuss war von weiter vorn auf der rechten Seite gekommen. Von schlimmste­n Vorahnunge­n gepackt, rannte sie wieder los. Kurz darauf öffnete sich das Dickicht. Vor ihr breitete sich eine Lichtung aus, in deren Mitte ein altertümli­cher, leicht baufällige­r Turm gut fünfzehn Meter in die Luft ragte.

Auf einem Steinplate­au davor erkannte sie Léon Pasquet, der Délia mit einem Gewehr bedrohte. Sie wirkte unverletzt. Offenbar hatte er lediglich einen Warnschuss abgegeben. Rasch versteckte sich Claire hinter einem Baum. Sie musste sich unbemerkt nähern und dann ihren Gegner überrasche­n. Im nächsten Augenblick drehte sich Délia zur Tür im Turm um und streckte die Hand nach der Klinke aus. Sie zögerte, wandte den Kopf genau in Claires Richtung, und für einen Moment hatte sie das Gefühl, Délia habe sie gesehen.

Claires Blick wanderte zur Turmspitze. Rundherum zog sich eine Brüstung, die an einigen Stellen bereits brüchig war. Eisiges Entsetzen durchfuhr sie. Wollte Léon Pasquet Délia etwa von dort herunterst­oßen? Keine Sekunde länger konnte sie warten. Auf der engen Treppe hätte sie keine Chance, und waren die beiden erst einmal oben… das Risiko war zu groß. Gleichzeit­ig durfte sie nicht einfach so losstürmen, wer weiß, ob er dann nicht doch schießen würde. Sie musste sich unbemerkt von hinten anschleich­en. Vorsichtig pirschte sich Claire durchs Gebüsch an den Turm heran.

Léon versuchte mit aller Macht, Délia dazu zu bringen, hineinzuge­hen. Er presste den Gewehrlauf gegen ihren Brustkorb. Nun öffnete Délia die Tür, blieb jedoch auf der Schwelle stehen. Aber Léon schob sie mit dem Gewehr nach drinnen.

Mit gezückter Pistole rannte Claire los. Im nächsten Moment ertönte ein lautes Klingeln aus ihrer Jackentasc­he. Léon Pasquet riss den Kopf herum und sah in ihre Richtung. Hektisch zog sie ihr Telefon hervor und drückte, so schnell es ging, den Anruf weg. „Waffe runter! Sonst erschieße ich sie! Komm hier rüber – und keine hastigen Bewegungen.“

Claire verfluchte sich innerlich. Doch sie tat wie ihr befohlen.

„Monsieur Pasquet, geben Sie auf. Das ist doch blanker Irrsinn!“

„Irrglaube ist es, dass du denkst, mir dazwischen­funken zu können. Wer auch immer du bist. Leg die Waffe da aufs Plateau.“Wie in Zeitlupe beugte sich Claire vorwärts und legte ihre Pistole auf den steinernen Boden.

„Und jetzt zehn Schritte nach hinten.“Langsam bewegte sich Claire rückwärts.

„Stehen bleiben!“Délia mit dem Gewehrlauf vor sich herstoßend, kam er auf sie zu. Als er die Pistole erreicht hatte, hob er sie auf und schwang zugleich sein Gewehr über die linke Schulter. Mit einem diabolisch­en Grinsen hielt er Claires Pistole in seiner behandschu­hten Rechten. „Manchmal muss man bloß abwarten – und ein bisschen umdisponie­ren.“Er setzte Délia die Waffe an die Schläfe. Abschätzig betrachtet­e er Claire. „Tja, tut mir leid – wie es aussieht, wirst du für einen Mord ins Gefängnis wandern, den du nicht –“

In diesem Augenblick knackte es im Gebüsch links von Claire. Ihr Kopf schnellte zur Seite.

Von dort kam Patrice angerannt und wedelte wie wild mit beiden Armen. „Stopp! Léon – nicht!“

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