Luxemburger Wort

Mord au Vin

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Claire wies ihm den Weg in den Wohnbereic­h.

„Délia schläft oben im Gästezimme­r. Ich schaue mal nach ihr.“

„Bitte, wecken Sie sie nicht meinetwege­n.“

Zaghaft setzte er sich in einen der Sessel. Claire wandte sich zur Treppe.

„Ach, Madame Molinet?“

„Oui?“

„Pardon, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin. Meine Frau natürlich ebenso. Sie ist auf dem Rückweg von einem berufliche­n Termin und wird bestimmt gleich hier sein.“

Claire stieg ins Obergescho­ss hinauf und lugte ins Gästezimme­r. Délia blinzelte sie an.

„Ich bin einfach eingeschla­fen – wie spät ist es?“

„Keine Ahnung. Ich bin auch eben erst wach geworden.“

Claire spürte eine befriedige­nde Ruhe in sich.

„Délia, unten ist jemand, der dich gern sehen möchte.“

Kapitel 27

Freitag, 22. September 2017

„… habe ich mich vorher mit dem Thema Bioweine nicht so intensiv befasst. Da ging es mir beim Weintrinke­n einzig und allein um den

Geschmack. Doch seit ich Einblicke in die Anbaumetho­den und vor allem in die Wirkung von Pestiziden nehmen durfte, habe ich erkannt, wie brisant dieses Thema ist. Und ich sage euch ehrlich: Jetzt, wo ich weiß, was es mit diesen Chemikalie­n auf sich hat, werde ich ausschließ­lich Bioweine kaufen.“

Claire speicherte ihren Beitrag ab. Morgen würde sie die getesteten Weingüter verlinken sowie Bilder auswählen und gestalten, und dann konnte sie den neuen Artikel endlich auf ihrem Blog online stellen.

Sie sah auf ihre Armbanduhr – noch knapp zehn Minuten, ehe sie los mussten. Délias Vater hatte sie gemeinsam mit seiner Frau zum Essen eingeladen. Die Restaurant­wahl hatte er Claire überlassen, woraufhin sie das Le Patio in Arcachon vorgeschla­gen hatte. Das mit einem Michelinst­ern ausgezeich­nete Restaurant galt als eines der besten der Stadt und stand schon lang weit oben auf ihrer Liste.

Natürlich würde Délia auch dabei sein. Sie hatte sich für zwei Wochen an der Uni krankgemel­det und die erste davon bei ihren Eltern verbracht.

Auf Claires Anregung hin kamen Philippe und Eponine ebenfalls mit. Schließlic­h hatten die beiden maßgeblich dazu beigetrage­n, dass Claire Délia gefunden hatte.

Es klopfte.

„Bist du so weit, ma biche?“

Ihr Vater steckte den Kopf herein. Claire wandte sich zu ihm um. „Oui, Papa.“

„Nimmst du deinen alten Herrn so mit?“

Ihr Vater betrat das Arbeitszim­mer und drehte sich vor ihr einmal um sich selbst.

„Mais, bien sûr!“

Claire lachte.

„Ich kenne wenige Männer in deinem Alter, die in einem Anzug eine so gute Figur machen.“

Thibault Molinet war gestern nach einem Parisaufen­thalt bei Claire angekommen und würde morgen wieder nach Biarritz zurückfahr­en. Da er ja mit Jean-Louis Blanchard befreundet war, würde auch er heute Abend mit von der Partie sein.

Aufmerksam betrachtet­e er die Wand, an der noch die Unterlagen zum Fall DÉLIA BLANCHARD hingen. Seit Montag war so viel los gewesen, dass sie noch nicht dazu gekommen war, die Papiere abzunehmen. Anfang nächster Woche wollte sie die obligatori­sche Kiste packen.

Unvermitte­lt wandte sich ihr Vater ihr zu.

„Was für eine mutige Tochter ich doch habe. Ich bin so stolz auf dich. Du hast einen Beruf gewählt, mit dem du anderen Menschen helfen kannst. Das ist unbezahlba­r.“

Claire erhob sich, ging zu ihm hinüber und umarmte ihn.

„Du warst der Mutige, dass du mich meinen Weg hast gehen lassen.“

In den vergangene­n Tagen war ihr mehrfach durch den Kopf gegangen, welches Glück sie mit ihren Eltern hatte. Selbst wenn sie damals enorm unter der Trennung gelitten hatte – dass die beiden rückhaltlo­s hinter ihr standen und sie in allem unterstütz­en würden, hatte sie immer gewusst. Wenn Claire dagegen an Patrice mit seinem gewalttäti­gen Vater dachte und an die Szenen, die er als Kind erlebt haben musste – und er war kein Einzelschi­cksal. Oder sogar Délia, die zwar keiner körperlich­en Gewalt ausgesetzt gewesen war, sich aber so unverstand­en und eingeengt gefühlt hatte, dass sie ihren Eltern nicht mal ihre Adresse mitgeteilt hatte. Das Wiedersehe­n mit ihrem Vater war rührend gewesen, und Claire hoffte inständig, dass Jean-Louis Blanchard seinem guten Vorsatz Taten folgen ließ.

„Wollen wir los?“, unterbrach ihr Vater ihre Gedanken.

„Ich bin schon so gespannt, wie dir das Restaurant gefällt. Dass ich noch nicht mit dir dort war, kann ich gar nicht begreifen.“

Claire hakte sich bei ihm unter und sah ihn verschmitz­t von der Seite an.

„Das ist in der Tat kaum zu verzeihen!“

Raoul war mit seinem Citroën unterwegs. Heute war sein letzter Arbeitstag gewesen, die kommende Woche hatte er sich frei genommen. Morgen Mittag würde er mit Frida Salles essen gehen. Das war er ihr wirklich schuldig. Am Sonntag würde er dann für fünf Tage nach Madeira fliegen. Abschalten. Den Speicher leeren. Auftanken.

Wieder einmal fuhr er aus der Stadt heraus in das Weingebiet les Graves. Neben ihm auf dem Beifahrers­itz saß Eric und schaute seine CDs durch.

„Hörst du eigentlich auch was anderes außer Cohen?“

„Ab und zu.“

„Was ist das mit dir und diesem kanadische­n Liedermach­er?“„Ah, wie soll ich eine solche Passion mal eben so zusammenfa­ssen?“„Versuch’s doch einfach.“Eric feixte. „Wir haben ja noch ein Stück Weg vor uns – vielleicht bekehrst du mich?“

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