Mord au Vin
96
Claire wies ihm den Weg in den Wohnbereich.
„Délia schläft oben im Gästezimmer. Ich schaue mal nach ihr.“
„Bitte, wecken Sie sie nicht meinetwegen.“
Zaghaft setzte er sich in einen der Sessel. Claire wandte sich zur Treppe.
„Ach, Madame Molinet?“
„Oui?“
„Pardon, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin. Meine Frau natürlich ebenso. Sie ist auf dem Rückweg von einem beruflichen Termin und wird bestimmt gleich hier sein.“
Claire stieg ins Obergeschoss hinauf und lugte ins Gästezimmer. Délia blinzelte sie an.
„Ich bin einfach eingeschlafen – wie spät ist es?“
„Keine Ahnung. Ich bin auch eben erst wach geworden.“
Claire spürte eine befriedigende Ruhe in sich.
„Délia, unten ist jemand, der dich gern sehen möchte.“
Kapitel 27
Freitag, 22. September 2017
„… habe ich mich vorher mit dem Thema Bioweine nicht so intensiv befasst. Da ging es mir beim Weintrinken einzig und allein um den
Geschmack. Doch seit ich Einblicke in die Anbaumethoden und vor allem in die Wirkung von Pestiziden nehmen durfte, habe ich erkannt, wie brisant dieses Thema ist. Und ich sage euch ehrlich: Jetzt, wo ich weiß, was es mit diesen Chemikalien auf sich hat, werde ich ausschließlich Bioweine kaufen.“
Claire speicherte ihren Beitrag ab. Morgen würde sie die getesteten Weingüter verlinken sowie Bilder auswählen und gestalten, und dann konnte sie den neuen Artikel endlich auf ihrem Blog online stellen.
Sie sah auf ihre Armbanduhr – noch knapp zehn Minuten, ehe sie los mussten. Délias Vater hatte sie gemeinsam mit seiner Frau zum Essen eingeladen. Die Restaurantwahl hatte er Claire überlassen, woraufhin sie das Le Patio in Arcachon vorgeschlagen hatte. Das mit einem Michelinstern ausgezeichnete Restaurant galt als eines der besten der Stadt und stand schon lang weit oben auf ihrer Liste.
Natürlich würde Délia auch dabei sein. Sie hatte sich für zwei Wochen an der Uni krankgemeldet und die erste davon bei ihren Eltern verbracht.
Auf Claires Anregung hin kamen Philippe und Eponine ebenfalls mit. Schließlich hatten die beiden maßgeblich dazu beigetragen, dass Claire Délia gefunden hatte.
Es klopfte.
„Bist du so weit, ma biche?“
Ihr Vater steckte den Kopf herein. Claire wandte sich zu ihm um. „Oui, Papa.“
„Nimmst du deinen alten Herrn so mit?“
Ihr Vater betrat das Arbeitszimmer und drehte sich vor ihr einmal um sich selbst.
„Mais, bien sûr!“
Claire lachte.
„Ich kenne wenige Männer in deinem Alter, die in einem Anzug eine so gute Figur machen.“
Thibault Molinet war gestern nach einem Parisaufenthalt bei Claire angekommen und würde morgen wieder nach Biarritz zurückfahren. Da er ja mit Jean-Louis Blanchard befreundet war, würde auch er heute Abend mit von der Partie sein.
Aufmerksam betrachtete er die Wand, an der noch die Unterlagen zum Fall DÉLIA BLANCHARD hingen. Seit Montag war so viel los gewesen, dass sie noch nicht dazu gekommen war, die Papiere abzunehmen. Anfang nächster Woche wollte sie die obligatorische Kiste packen.
Unvermittelt wandte sich ihr Vater ihr zu.
„Was für eine mutige Tochter ich doch habe. Ich bin so stolz auf dich. Du hast einen Beruf gewählt, mit dem du anderen Menschen helfen kannst. Das ist unbezahlbar.“
Claire erhob sich, ging zu ihm hinüber und umarmte ihn.
„Du warst der Mutige, dass du mich meinen Weg hast gehen lassen.“
In den vergangenen Tagen war ihr mehrfach durch den Kopf gegangen, welches Glück sie mit ihren Eltern hatte. Selbst wenn sie damals enorm unter der Trennung gelitten hatte – dass die beiden rückhaltlos hinter ihr standen und sie in allem unterstützen würden, hatte sie immer gewusst. Wenn Claire dagegen an Patrice mit seinem gewalttätigen Vater dachte und an die Szenen, die er als Kind erlebt haben musste – und er war kein Einzelschicksal. Oder sogar Délia, die zwar keiner körperlichen Gewalt ausgesetzt gewesen war, sich aber so unverstanden und eingeengt gefühlt hatte, dass sie ihren Eltern nicht mal ihre Adresse mitgeteilt hatte. Das Wiedersehen mit ihrem Vater war rührend gewesen, und Claire hoffte inständig, dass Jean-Louis Blanchard seinem guten Vorsatz Taten folgen ließ.
„Wollen wir los?“, unterbrach ihr Vater ihre Gedanken.
„Ich bin schon so gespannt, wie dir das Restaurant gefällt. Dass ich noch nicht mit dir dort war, kann ich gar nicht begreifen.“
Claire hakte sich bei ihm unter und sah ihn verschmitzt von der Seite an.
„Das ist in der Tat kaum zu verzeihen!“
Raoul war mit seinem Citroën unterwegs. Heute war sein letzter Arbeitstag gewesen, die kommende Woche hatte er sich frei genommen. Morgen Mittag würde er mit Frida Salles essen gehen. Das war er ihr wirklich schuldig. Am Sonntag würde er dann für fünf Tage nach Madeira fliegen. Abschalten. Den Speicher leeren. Auftanken.
Wieder einmal fuhr er aus der Stadt heraus in das Weingebiet les Graves. Neben ihm auf dem Beifahrersitz saß Eric und schaute seine CDs durch.
„Hörst du eigentlich auch was anderes außer Cohen?“
„Ab und zu.“
„Was ist das mit dir und diesem kanadischen Liedermacher?“„Ah, wie soll ich eine solche Passion mal eben so zusammenfassen?“„Versuch’s doch einfach.“Eric feixte. „Wir haben ja noch ein Stück Weg vor uns – vielleicht bekehrst du mich?“