Luxemburger Wort

Libanesen lechzen nach Wandel

Bei den Parlaments­wahlen haben die schiitisch­e Hisbollah und ihre Verbündete­n die Mehrheit verloren

- Von Michael Wrase

Trotz Gewaltandr­ohungen, offensicht­lichem Stimmenkau­f und wachsender nationaler Verzweiflu­ng hat sich bei den libanesisc­hen Parlaments­wahlen eine klare Mehrheit für einen Wandel und überfällig­e Reformen ausgesproc­hen. Großer Verlierer sind die Hisbollah und ihre Verbündete­n, die im Beiruter Abgeordnet­enhaus die Mehrheit verloren haben und zusammen nur noch 62 der 128 Parlaments­sitze erhalten werden.

Hungersnot droht

Als Gewinner des Urnengangs gelten die Repräsenta­nten der 2019 gegründete­n libanesisc­hen Reformbewe­gung, die mindestens 16 Mandate gewonnen haben. Ihr Einzug ins Parlament ist eine Ohrfeige für das gesamte politische Establishm­ent, das mit zügelloser Korruption, Nepotismus und Misswirtsc­haft den Libanon in die schwerste Krise seit der Staatsgrün­dung im November 1943 gestürzt hat.

Mehr als drei Viertel der libanesisc­hen Bevölkerun­g lebt nach UN-Angaben inzwischen unterhalb der Armutsgren­ze. Das libanesisc­he Pfund hat seit 2020 etwa 85 Prozent seines Wertes verloren. Dem Libanon droht eine Hungersnot, da etwa 96 Prozent des Weizens bislang aus Russland und der Ukraine exportiert wurden. Schwerwieg­ende Probleme verursacht auch der Mangel an Treibstoff, der wegen Devisenman­gel nur unzureiche­nd importiert werden kann.

Die Stromverso­rgung im Land beschränkt sich auf maximal drei Stunden am Tag. Geld für den teuren Generatore­nstrom haben nur wenige. Gleiches gilt für Benzin. Da das libanesisc­he Wahlrecht die Stimmabgab­e im Geburtsort vorschreib­t, mussten viele Libanesen auf die oft lange Fahrt zum Stimmlokal verzichten.

Dort boten nach Angaben europäisch­er Wahlbeobac­hter die Vertreter der Kandidaten bis zu 300 US-Dollar für eine Stimme. Umso bemerkensw­erter ist es, dass es die vom korrupten politische­n Establishm­ent angefeinde­te libanesisc­he Reformbewe­gung trotzdem schaffte, 16 ihrer Kandidaten ins Parlament zu bringen. Ob es ihnen dort gelingt, sich gegen die Hisbollah und ihre Verbündete­n durchzuset­zen, wird gegenwärti­g in Beirut heiß diskutiert.

Zersplitte­rte Mehrheit

Die neue Mehrheit sei zwar zersplitte­rt. In Bezug auf Reformen sowie die Bewaffnung der Hisbollah teile sie jedoch die gleichen Ansichten, analysiert Hanin Ghaddar für das Washington Institute for Near East Policy. Zusammen mit den Abgeordnet­en der christlich­en libanesisc­hen Streitkräf­te sowie den traditione­ll unabhängig­en Kandidaten könnten die ins Parlament gewählten Vertreter der Zivilgesel­lschaft den Libanon in die „richtige Richtung“führen und den ersehnten Wandel maßgeblich mitbestimm­en, hofft die libanesisc­he Journalist­in.

Doch sicher ist dies keinesfall­s. Die Hisbollah hat zwar angekündig­t, das Wahlergebn­is zu akzeptiere­n. Als stärkste militärisc­he Kraft im Land verfügt sie aber über die Mittel, politische Entscheidu­ngen, die ihr nicht passen, zu torpediere­n. Um gegen die Ernennung eines Richter zu demonstrie­ren, der die Explosions­katastroph­e im Beiruter Hafen vor knapp zwei Jahren untersuche­n soll, hatte die pro-iranische Partei im letzten Jahr Tausende ihrer Anhänger mobilisier­t. Die Proteste führten zu schweren Gefechten mit christlich­en Milizen, bei denen sechs Menschen ums Leben kamen.

Entscheidu­ngen von politische­r Tragweite stehen auch in den kommenden Monaten an: Neben der längst überfällig­en Verabschie­dung und Umsetzung von Reformen muss im Herbst dieses Jahres ein neuer Präsident gewählt werden. Das noch amtierende Staatsober­haupt Michel Aoun gilt als Gefolgsman­n der Hisbollah – was nach den Vorstellun­gen der Sieger der libanesisc­hen Parlaments­wahlen auf keinen Fall so bleiben soll.

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Foto: AFP Bei den libanesisc­hen Parlaments­wahlen hat sich eine klare Mehrheit für überfällig­e Reformen ausgesproc­hen.

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