Libanesen lechzen nach Wandel
Bei den Parlamentswahlen haben die schiitische Hisbollah und ihre Verbündeten die Mehrheit verloren
Trotz Gewaltandrohungen, offensichtlichem Stimmenkauf und wachsender nationaler Verzweiflung hat sich bei den libanesischen Parlamentswahlen eine klare Mehrheit für einen Wandel und überfällige Reformen ausgesprochen. Großer Verlierer sind die Hisbollah und ihre Verbündeten, die im Beiruter Abgeordnetenhaus die Mehrheit verloren haben und zusammen nur noch 62 der 128 Parlamentssitze erhalten werden.
Hungersnot droht
Als Gewinner des Urnengangs gelten die Repräsentanten der 2019 gegründeten libanesischen Reformbewegung, die mindestens 16 Mandate gewonnen haben. Ihr Einzug ins Parlament ist eine Ohrfeige für das gesamte politische Establishment, das mit zügelloser Korruption, Nepotismus und Misswirtschaft den Libanon in die schwerste Krise seit der Staatsgründung im November 1943 gestürzt hat.
Mehr als drei Viertel der libanesischen Bevölkerung lebt nach UN-Angaben inzwischen unterhalb der Armutsgrenze. Das libanesische Pfund hat seit 2020 etwa 85 Prozent seines Wertes verloren. Dem Libanon droht eine Hungersnot, da etwa 96 Prozent des Weizens bislang aus Russland und der Ukraine exportiert wurden. Schwerwiegende Probleme verursacht auch der Mangel an Treibstoff, der wegen Devisenmangel nur unzureichend importiert werden kann.
Die Stromversorgung im Land beschränkt sich auf maximal drei Stunden am Tag. Geld für den teuren Generatorenstrom haben nur wenige. Gleiches gilt für Benzin. Da das libanesische Wahlrecht die Stimmabgabe im Geburtsort vorschreibt, mussten viele Libanesen auf die oft lange Fahrt zum Stimmlokal verzichten.
Dort boten nach Angaben europäischer Wahlbeobachter die Vertreter der Kandidaten bis zu 300 US-Dollar für eine Stimme. Umso bemerkenswerter ist es, dass es die vom korrupten politischen Establishment angefeindete libanesische Reformbewegung trotzdem schaffte, 16 ihrer Kandidaten ins Parlament zu bringen. Ob es ihnen dort gelingt, sich gegen die Hisbollah und ihre Verbündeten durchzusetzen, wird gegenwärtig in Beirut heiß diskutiert.
Zersplitterte Mehrheit
Die neue Mehrheit sei zwar zersplittert. In Bezug auf Reformen sowie die Bewaffnung der Hisbollah teile sie jedoch die gleichen Ansichten, analysiert Hanin Ghaddar für das Washington Institute for Near East Policy. Zusammen mit den Abgeordneten der christlichen libanesischen Streitkräfte sowie den traditionell unabhängigen Kandidaten könnten die ins Parlament gewählten Vertreter der Zivilgesellschaft den Libanon in die „richtige Richtung“führen und den ersehnten Wandel maßgeblich mitbestimmen, hofft die libanesische Journalistin.
Doch sicher ist dies keinesfalls. Die Hisbollah hat zwar angekündigt, das Wahlergebnis zu akzeptieren. Als stärkste militärische Kraft im Land verfügt sie aber über die Mittel, politische Entscheidungen, die ihr nicht passen, zu torpedieren. Um gegen die Ernennung eines Richter zu demonstrieren, der die Explosionskatastrophe im Beiruter Hafen vor knapp zwei Jahren untersuchen soll, hatte die pro-iranische Partei im letzten Jahr Tausende ihrer Anhänger mobilisiert. Die Proteste führten zu schweren Gefechten mit christlichen Milizen, bei denen sechs Menschen ums Leben kamen.
Entscheidungen von politischer Tragweite stehen auch in den kommenden Monaten an: Neben der längst überfälligen Verabschiedung und Umsetzung von Reformen muss im Herbst dieses Jahres ein neuer Präsident gewählt werden. Das noch amtierende Staatsoberhaupt Michel Aoun gilt als Gefolgsmann der Hisbollah – was nach den Vorstellungen der Sieger der libanesischen Parlamentswahlen auf keinen Fall so bleiben soll.