„The horror! The horror!“
1890 war ein Wendepunkt im Leben eines Mannes, der später Literaturgeschichte schreiben würde. Als Schiffsoffizier in den Diensten einer belgischen Handelsfirma wurde Józef Korzeniowski Augenzeuge des Schreckensregimes, das Belgiens König Leopold II. im „
Nicht erst seit Francis Ford Coppolas kongenialer Leinwandadaption „Apocalypse Now“zählt Joseph Conrads Erzählung „Heart of Darkness“(dt.: „Herz der Finsternis“) zu den Meisterwerken der Weltliteratur. Die Figur des Mr. Kurtz ist eine der denkwürdigsten, die der große Schriftsteller in einem Werk geschaffen hat, das die Abgründe der Seele so beleuchtet, wie es wenige Autoren vor ihm fertiggebracht haben. Er ist ein kolonialistischer Idealist, der fernab der Zivilisation von der Gier korrumpiert wird und alle moralischen Hemmnisse über Bord wirft, sich in seiner Handelsstation von den Einheimischen sogar als göttliches Wesen verehren lässt, um an das kostbare Elfenbein zu kommen.
Wo diese Geschichte spielt, ist dem Text nirgendwo zu entnehmen. Und doch hat der Schriftsteller nie Zweifel daran gelassen, dass er dabei den „Etat indépendant du Congo“im Blick hatte, jene persönliche Kolonie des belgischen Königs Leopold II., die Conrad als „the vilest scramble for loot that ever disfigured the history of human conscience“bezeichnete – die widerlichste Jagd nach Beute, wie sie jemals die Geschichte des menschlichen Gewissens entstellt habe.
Als „Scramble for Africa“ging die Hatz nach kolonialen Besitztümern in Schwarzafrika, an der sich fast alle europäischen Mächte beteiligten, erst zur Mitte des 19. Jahrhunderts richtig los. Eine entscheidende Etappe dafür wurde 1884 auf der Berliner Afrika-Konferenz gelegt. Zu den Teilnehmern gehörte Leopold II., König der Belgier und damit Vertreter eines politisch eher unbedeutenden Kleinstaates. An Macht und materiellem Besitz interessiert, hatte der Monarch sich seit seiner Thronbesteigung für den im Hinterland weitgehend unerforschten Kontinent begeistert. 1876 rief er die „Association Internationale Africaine“ins Leben, unter dem Vorwand, die humanitäre und wissenschaftliche Arbeit in Afrika international zu koordinieren. Doch der Deckmantel des Philanthropismus diente ihm letzten Endes dazu, sich „une part de ce magnifique gâteau africain“zu sichern, wie er sich ausdrückte.
Seinem Wunsch, die Souveränität über den privat von ihm in Besitz genommenen Kongo international bestätigt zu sehen, wurde auf der Berliner Konferenz entsprochen. Doch den teilnehmenden Mächten ging es vor allem um die Absteckung kolonialer Machtbereiche in Afrika, konkret die Aufteilung eines ganzen Erdteils, um daraus wirtschaftlichen Nutzen zu ziehen.
Auf Glückssuche am Kongo
Von der Begeisterung für die Entdeckung „weißer Flecken“auf der Weltkarte ließ sich auch Józef Teodor Konrad Nałecz Korzeniowski anstecken. 1866 als Sohn eines polnischen Adligen geboren, war er in Russland aufgewachsen, bevor er als junger Mann zunächst auf französischen, dann auf britischen Handelsschiffen anheuerte. 1886 erwarb er sein Kapitänspatent, nachdem er zwei Jahre zuvor die britische Staatsbürgerschaft angenommen hatte. Seine Seefahrterlebnisse, unter anderem im Malaiischen Archipel, lieferten Jahre später den Stoff vieler der Romane und Kurzgeschichten, die er unter dem Namen Joseph Conrad zeichnete.
Die Reise, die ihn am meisten prägen sollte, war aber jene, die er von Juni bis Dezember 1890 durch den riesigen „Etat indépendant du Congo“unternahm, den Kongo-Freistaat, in dem Leopold II. durch die von ihm eingesetzte weiße Verwaltung souverän und absolut herrschte, ohne an eine Verfassung gebunden zu sein, die der wirtschaftlichen Ausbeutung der schwarzen Bevölkerung elementare Grenzen gesetzt hätte. Da die weit auseinanderliegenden Handelsposten entlang des gewaltigen Flusses nur über die Wasserstraße zu erreichen war, hatte die „Société anonyme belge pour le commerce du Haut-Congo“großes Interesse an erfahrenen Schiffsoffizieren. Conrad hatte sich bei der Gesellschaft in Brüssel beworben und wurde mit einem Drei-Jahres-Vertrag eingestellt.
Am 10. Mai 1890 schiffte er sich in Bordeaux zu einer fast einmonatigen Reise nach Afrika ein. Nach einer Zwischenlandung in Teneriffa ging es bei drückender Schwüle an der afrikanischen Küste entlang und hundert Kilometer den Kongo-Strom flussaufwärts nach Boma, dem Verwaltungshauptort des Kongo-Freistaates, wo Conrad am 12. Juni von Bord ging. Einen Tag später erreichte er das knapp 50 km entfernte Matadi, wo er allerdings mit ersten Schwierigkeiten konfrontiert wurde.
In Matadi begann Conrad auch zum ersten Mal in seinem Leben ein Tagebuch zu führen. Die knapp gehaltenen Einträge dieses „Congo Diary“sind die einzige zuverlässige biografische Quelle zu dieser Lebensphase des Schriftstellers. Bereits der erste Eintrag ist von Zweifeln geprägt: „Feel considerably in doubt about the future. Think just now that my life amongst the people (white) around here can not be very comfortable. Intend avoid acquaintances as
much as possible.” Eine Meinung, in der Conrad sehr schnell bestärkt wurde.
Ein Traum wird zum Alptraum
Eine Bekanntschaft, die er in Matadi machte, sollte sich aber als gleichermaßen wichtig für ihn und die Zukunft von Leopolds Schreckensregime erweisen. „Made the acquaintance of Mr Roger Casement (…). Thinks, speaks well, most intelligent and very sympathetic.” Auch den Iren hatte es an in den Kongo-Freistaat verschlagen, wo er für verschiedene Unternehmen und die Internationale Afrika-Gesellschaft arbeitete. Später trat er in den Dienst der britischen Regierung ein, in deren Auftrag er 1903 einen Bericht über die katastrophalen Zustände im Kongo erstellte (siehe unten).
Daran dachte 1890 noch niemand. Der Kongo-Freistaat bestand damals seit gerademal fünf
Jahren und zog nicht nur profitorientierte Unternehmer an, sondern auch abenteuerlustige junge Männer auf der Suche nach neuen Chancen. Erste Einblicke in die grausame Realität erhielt Conrad auf der beschwerlichen Landreise, die ihn zwischen dem 28. Juni und dem 2. August 1890 in das 370 Kilometer flussaufwärts gelegene Léopoldville (das heutige Kinshasa) führte. Im Eintrag des 3. Juli liest man den knappen Hinweis, in einem Camp habe er die Leiche eines Angehörigen des BackongoVolkes gesehen: „Shot? Horrid smell.“Zwei Tage später: „Saw another dead body lying by the path in an attitude of meditative repose.” Und, am 29. Juli: „On the road to day passed a skeleton tied-up to a post”.
Viel mehr als diese knappen Hinweise auf mögliche Gräueltaten finden sich nicht im „Diary“, in dem Conrad vor allem auf die extrem schwierigen Bedingungen eingeht, die den Treck, zu dem auch rund 30 schwarze Träger gehörten, auf der langen Reise begleiteten: kalte Nächte, Moskitos, schlechtes Trinkwasser. Sein Begleiter Prosper Harou wurde krank und musste getragen werden, dies über ein Gelände, das viele starke Steigungen und Abstiege umfasste: „Great difficulty in carrying Harou – Too heavy. Bother! Made two lang halts to rest the porters“, notierte er am 31. Juli. Am vorletzten Tag des langen Marsches gab Conrad seiner Erschöpfung Ausdruck: „Mosquitoes –
Frogs – Beastly. Glad to see the end of this stupid tramp. Feel rather seedy.”
Besser sollte es auch nicht werden, als er in Léopoldville erneut Schiffsboden betrat. Als stellvertretender Kommandant des kleinen Flussdampfers „Roi des Belges“setzte er die Reise zum Oberlauf des Kongo fort. Auch hier griff der erfahrene Seemann wieder zur Feder, doch anders als das „Congo Diary“beschränkte sein sogenanntes „Up-river Book“sich auf akribische navigationstechnische Notizen und Skizzen. Zudem brechen die Einträge mitten in der über 1500 Kilometer langen Fahrt nach Stanley Falls ab, und bis heute rätseln Conrad-Forscher über den möglichen Grund, der vielleicht einfach im Verlust eines zweiten Notizbuches besteht.
Everything here is repellent to me. Men and things, but men above all. Joseph Conrad
Körperlich und seelisch am Ende
Conrads Gesundheitszustand besserte sich nicht an Bord; nun war es eine schwere Dysenterie, die ihm zu schaffen machte. Auch psychisch ging es ihm immer schlechter, zum Teil bedingt durch Probleme mit seinen Arbeitgebern. Conrad hatte Mühe, seine Antipathie für das brutale Kolonialregime zu verbergen. Dabei wurde er sogar kurzzeitig zum Kommandanten der „Roi des Belges“ernannt, nachdem der Kapitän schwer erkrankt war. Tropische