Pechvogel mit Perspektive
Der unglaubliche Tag von Etappensieger Biniam Girmay beim Giro d'Italia hat Hollywood-Potenzial
Am Morgen nach seinem Traumsprint erwachte Biniam Girmay mit einem lachenden und einem leidlich lädierten Auge. Dass sich der eritreische Überflieger ausgerechnet am größten Tag für Afrikas Radsport selbst mit einem kapitalen Korken-Querschläger aus der Prosecco-Pulle niedergestreckt hatte, verhinderte zwar weitere Heldentaten beim 105. Giro d'Italia. Den Siegeszug des 22Jährigen und seiner euphorisierten Nation wird dies aber nicht bremsen.
„Natürlich bin ich traurig. Aber mein Auge braucht jetzt etwas Ruhe“, sagte Girmay, als er gestern Morgen eine Italien-Rundfahrt beendete, der er am vorigen Nachmittag mit dem ersten Grand-TourEtappensieg eines schwarzen Afrikaners eine märchenhafte Wendung gegeben hatte: „Ich freue mich schon auf die nächsten Ziele.“
Die hat der smarte Youngster zur Genüge, der Saison-Entdeckung steht die Radsport-Welt offen. Im März hatte Girmay, der bei Intermarché-Wanty Gobert unter Vertrag steht, mit dem Sieg beim Klassiker Gent-Wevelgem verblüfft. Am Dienstag ließ er im Zielsprint dem niederländischen Topstar Mathieu van der Poel keine
Chance. Längst ist Girmay kein Exot mehr in einer über ein Jahrhundert weiß dominierten Sportart.
In Eritreas Hauptstadt Asmara, wo Girmay 2000 geboren wurde, sorgte dessen Coup für Volksfeststimmung. Im krisengeschüttelten ostafrikanischen Land – im „Human Development Index“, der Gesundheit, Bildung und Einkommen misst, liegt Eritrea auf Rang 180 unter 189 Staaten – ist Radsport die ganz große Nummer. Ein Relikt der italienischen Kolonialherrschaft.
Die Bedingungen in Eritrea ähneln auffallend jenen in Kolumbien, dem größten „Exporteur“von Toptalenten: Girmay kann daheim bei mildem Wetter und in Höhenlagen ab 2 300 m trainieren. Gleiche Bedingungen finden sich in Äthiopien und Kenia.
Erste Straßen-WM in Afrika
Aus Ost- und Zentralafrika könnte sich ein Radsport-Boom auf höchstem Niveau entwickeln – bislang finden sich unter den rund 550 Profis in den 18 WorldTour-Teams gerade einmal vier schwarze Afrikaner. Das Potenzial des Kontinents, der 2025 (Ruanda) erstmals die Straßen-WM ausrichtet, ist gewaltig.
Das gilt auch für Girmay. „Wir stehen noch am Anfang und arbeiten weiter für größere Erfolge“, sagte er und bewies am Dienstag bei der Rückkehr aus dem Hospital nach der Prosecco-Panne Lernfähigkeit. Da stieß er nämlich mit den Teamkollegen erneut an. Mit Weißwein. Prickelt weniger, ist augenfreundlicher. sid
Natürlich bin ich traurig. Aber mein Auge braucht jetzt etwas Ruhe. Biniam Girmay