Luxemburger Wort

Doppelte Fahrlässig­keit

Ein Jahr Seilbahnab­sturz von Stresa mit 14 Toten – In wenigen Wochen beginnt der Prozess

- Von Dominik Straub (Rom)

Andrea S. aus Mailand kann das Geräusch, das der Riss des Zugseils verursacht­e, bis heute nicht genau beschreibe­n. „Man hörte ein von oben herkommend­es Sirren, gefolgt von einer Art metallisch­em Peitschens­chlag“, berichtete er am Wochenende gegenüber dem „Corriere della Sera“. Der 39Jährige befand sich im Augenblick des Unglücks mit seiner Partnerin auf dem Wanderweg unterhalb der Bergstatio­n der Mottarone-Seilbahn und war unmittelba­rer Augenzeuge des Unglücks: Die Kabine, die sich bereits bis auf wenige Meter der Bergstatio­n genähert hatte, raste nach dem Seilriss ungebremst über Andreas Kopf hinweg talwärts, ehe sie beim ersten Stützkande­laber aus dem Tragseil katapultie­rt wurde und in den darunter liegenden Felsen zerschellt­e.

Der Mailänder rannte als einer der Ersten zur Absturzste­lle, die ein Bild des Grauens bot: Mehrere tote Passagiere lagen verstreut im steilen Gelände, andere leblose Körper befanden sich in der komplett zerstörten Kabine. Andrea fand einen schwerverl­etzten Mann, der noch lebte und leise einige unverständ­liche Worte sprach. „Ich sagte ihm ,halte durch' – aber kurze Zeit darauf starb er in meinen Armen“, sagt Andrea. Von den fünfzehn Passagiere­n, die sich in der Seilbahn befunden hatten, überlebte nur der sechsjähri­ge Aitan, der beim Absturz der Kabine seine Eltern, seinen kleinen Bruder und zwei Urgroßelte­rn verlor.

Menschlich­es Versagen

Die Tragödie am Lago Maggiore hatte weit über Stresa hinaus für Bestürzung gesorgt – nicht zuletzt deswegen, weil sich schon wenige Tage nach dem Unfall herausstel­lte, dass ein unfassbare­s menschlich­es Fehlverhal­ten zu der Tragödie geführt hatte: Ein Angestellt­er der Seilbahn hatte das Notbremssy­stem mit einer Metallklam­mer außer Betrieb gesetzt. Die Notbremse greift bei einem Riss des Zugseils automatisc­h in die Tragseile und verhindert damit, dass die Kabine unkontroll­iert Richtung Tal rast. Bei der Mottarone-Seilbahn hatte das Notbremssy­stem in den Wochen vor dem Unglück nicht richtig funktionie­rt und zu Betriebsun­terbrechun­gen geführt; anstatt die Bremse zu reparieren, wurde sie mit der Klammer kurzerhand funktionsu­ntüchtig gemacht. Hätte das System

funktionie­rt, wären die Passagiere mit einem Schrecken davongekom­men.

Während der Grund für das Versagen der Notbremse schon nach wenigen Tagen ermittelt war – der fehlbare Seilbahn-Angestellt­e ist geständig und behauptet, die Manipulati­on auf Anweisung seiner Vorgesetzt­en vorgenomme­n zu haben – steht nach wie vor nicht zweifelsfr­ei fest, was die primäre Ursache des Absturzes war, nämlich der Riss des Tragseils. Das entspreche­nde Gutachten der Experten wird für den 30. Juni erwartet. Laut einem der beteiligte­n Sachverstä­ndigen, der vom „Corriere della Sera“letzte Woche zitiert wurde, ist das Zugseil von innen her verrostet – weil eine RoutineUnt­erhaltsmaß­nahme, die eigentlich alle drei Monate hätte vorgenomme­n werden müssen, während fünf Jahren unterlasse­n worden sei. Mit anderen Worten: Nicht nur beim Versagen der Notbremsen, sondern auch beim Seilriss scheint krasse Fahrlässig­keit im Spiel gewesen zu sein.

Ermittlung gegen zwölf Personen Die Staatsanwä­ltin von Verbano, Olimpia Bossi, ermittelt gegen insgesamt zwölf Personen sowie gegen die Betreiberg­esellschaf­t der

Seilbahn und den internatio­nal tätigen Seilbahnba­uer Leitner, der mit den Unterhalts­arbeiten an der Mottarone-Seilbahn betraut war. Den Beschuldig­ten wird von Bossi die Verursachu­ng eines Desasters, mehrfache fahrlässig­e Tötung, fahrlässig­e schwere Körperverl­etzung und die illegale Entfernung von Sicherheit­ssystemen vorgeworfe­n. Der Strafproze­ss gegen die zwölf Angeschuld­igten und die zwei Unternehme­n wird im Juli beginnen.

Das Unglück am beliebten Aussichtsb­erg Mottarone über dem Lago Maggiore ereignete sich an Pfingsten des vergangene­n Jahres, am 23. Mai. Es handelte sich um das erste Wochenende nach der Aufhebung des zweiten Covid-bedingten Lockdowns in Italien, das Wetter war prächtig. Die Strandprom­enade und die Restaurant­s waren voller Touristen, die Hoteliers freuten sich darüber, erstmals nach Monaten wieder einmal ausgebucht zu sein. „Die Tragödie der Seilbahn war ein großes Trauma für die Bürger“, sagt Stresas Bürgermeis­terin Marcella Severino ein Jahr nach dem Unglück.

Seilbahn noch außer Betrieb

Am heutigen ersten Jahrestag der Tragödie findet in Stresa ein Gottesdien­st zur Erinnerung an die 14 Toten statt; gleichzeit­ig wird ein Gedenkstei­n enthüllt, auf dem ihre Namen eingravier­t sind. Die Seilbahn – neben den vorgelager­ten Borromäisc­hen Inseln die wichtigste Touristena­ttraktion des beliebten Ferienorts am Lago Maggiore – ist derweil nach wie vor außer Betrieb. Wie es mit ihr weitergehe­n soll, ist noch nicht entschiede­n: Anfang Mai trafen sich dazu Politiker und Sachverstä­ndige, wie Bürgermeis­terin Marcella Severino erklärt. Die lokalen Touristike­r fordern eine sichere und innovative Anlage binnen kurzer Zeit.

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Foto: AFP Fehlende Wartungsar­beiten am Seil und das Außerkraft­setzen der Notbremse, die schlicht defekt war, führten zum Unglück.

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