Zwischen Selbstfindung und Selbsterinnerung
Franziska Autzen inszeniert Marie Jungs ersten Bühnentext „Poupette“, der trotz thematischer Überladenheit überzeugt
Was bleibt am Ende eines Menschenlebens übrig? Welche Spuren hinterlässt das Individuum bei seinen Mitmenschen? Und will es überhaupt anhand dieser Eindrücke definiert werden? Denn in einer Gesellschaft, in der es für viele immer noch unmöglich scheint, ihr wahres Ich zu zeigen oder gar zu finden, kann eine derartige Definition kaum funktionieren. Um diese Fragen und um viele andere Themen kreist Marie Jungs Stück „Poupette“, das momentan im Théâtre National du Luxembourg von Franziska Autzen inszeniert wird.
Marie Jungs erster Bühnentext – ein Einpersonenstück, in dem sie selbst die Hauptrolle übernimmt – erzählt von einer Frau, die sich am Ende ihres Lebens befindet und über ihren bisherigen Werdegang reflektiert. Anna Denise Schmit heißt die mittlerweile 96 Jahre alte Unterhalterin, Schriftstellerin, Garagistin und kinderlose Witwe. Das ist das Bild, das sie für viele hinterlässt. Dabei ist sie so viel mehr als das – oder will es zumindest sein.
Ungeschönte Gedankenketten
Anna Denise – genannt „Poupette“– ist eine Widerstandskämpferin: Sie lehnt sich gegen patriarchalische Gesellschaftsstrukturen auf und prangert das standardisierte Leben des Kleinbürgertums an, merkt rückblickend allerdings, dass auch sie manchmal Teil dieser Ordnungen ist. Dabei möchte sie sich auf keinen Fall der Norm zuweisen lassen. „Ich wollte nie so aussehen wie jede andere“, ruft Poupette, während sie mit auffälligen, goldenen Hackenschuhen über die Bühne läuft und tanzt.
Jungs Text schwankt zwischen innerem Monolog, Bewusstseinsstrom und eingebauten Dialogen, bei denen die Schauspielerin in die anderen Rollen hineinschlüpft. Der Figurenwechsel wird von Marie Jung gekonnt durch das Springen zwischen den verschiedenen Scheinwerferspots untermalt.
Mal führt Anna Denise ein stummes Selbstgespräch, mal tritt sie in Dialog mit dem Publikum und an anderen Stellen werden ihre Gedankengänge und ihre Empfindungen ungefiltert ans Licht gebracht. Was der Wahrheit entspricht und was nicht, bleibt offen, sodass Poupette, dem, was man in der Literatur als unzuverlässige Erzählerin bezeichnet, entspricht.
In elliptischen Retrospektiven – die stellenweise etwas chaotisch daherkommen und thematisch manchmal zu viel auf einmal wollen – spricht Anna Denise über das Leben und wie es einen formt und beeinflusst, wechselt hierbei allerdings immerzu zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Sie blickt auf frühere Beziehungen zurück und schildert – aber nie zu explizit – traumatische und prägende Erlebnisse, die sie bis heute nicht verarbeitet hat.
In der Gesellschaft gefangen
Immer wieder fallen die Namen ihrer Verflossenen – Robert, Josef und der Neue -, aber auch ihr Mops Ricky bleibt nicht außen vor. Und wenn sie von früheren Beziehungen spricht, kommt nicht nur zum Vorschein, dass jeder dieser Menschen eine andere Vorstellung von ihr hatte und sie bei jedem unterschiedliche Eindrücke hinterließ.
Wie facettenreich sie ist, beweist Marie Jung in „Poupette“sowohl textlich als auch schauspielerisch. Ihr erstes Bühnenstück spielt mit Elementen des inneren Monologs, mit Mitteln des Bewusstseinsstroms und mit imaginierten und realen Dialogen.
Vielmehr dringt auch durch, dass so vieles ungesagt blieb, denn „Dinge wollen und sie nicht sagen, sich aber daran festbeißen“, das kann Anna Denise angeblich gut.
Letztlich geht es ebenfalls um den Optimierungs- und Erwartungsdruck der Gesellschaft, von dem sie sich befreien will, doch nicht wirklich kann: „Ich habe die Freiheit, mich der Welt zu entziehen, ohne ihr ganz zu entsagen.“
Also nimmt sie das Leben in Kauf, schlüpft dabei in unterschiedliche Rollen ihrer selbst, spricht zynisch von Schuldenhaufen und schießt dennoch mit gesellschaftskritischen Aussagen, wie „der Lebensplan ,Mann, Frau, Kind‘ ist lebensgefährlich“, um sich. Ihr Ton bewegt sich hierbei konstant zwischen Sarkasmus, Ironie, Wut und Melancholie. Ähnlich wie das – zunächst mit einer Plastikfolie umwickelten – Mobiliar auf der Bühne nach und nach aufgedeckt wird, so offenbart sich dem Publikum im Laufe des Stücks auch die Biografie von Poupette. Das Enthüllen des Bühnendekors (Christoph Rasche) steht demnach sinnbildlich für die Preisgabe von Anna Denises wahrem Ich.
Gespaltene Persönlichkeit
Ein einheitliches Bild von Poupette bleibt dennoch nicht zurück. Sie, ihre Persönlichkeit und ihr Leben wirken zersplittert, wie es auch die von der Decke hängende Leuchtschrift „I am broken“andeutet. Diese wechselt allerdings in ein „I am OK“, was zum einen auf die im Stück angeschnittene Thematik der Selbstkritik und –perfektion anspielen könnte. Zum anderen bringt dieser Schriftzug ebenfalls die allgemeine Lebensresignation zum Ausdruck.
Marie Jung überzeugt in „Poupette“nicht nur schauspielerisch, sondern auch dramaturgisch. Es sind die zahlreichen Anspielungen, das implizite Sprechen mit Publikum, die den Monolog so vielfältig interpretierbar machen.
Obwohl das Stück stellenweise Gefahr läuft, den Kerngedanken zu verlieren und thematisch etwas überladen wirkt, ist Marie Jung zusammen mit der Regisseurin Franziska Autzen ein zum Nachdenken anregendes Stück gelungen.
Das Stück ist noch am 24. und 25. Mai jeweils um 20 Uhr im Théâtre National du Luxembourg zu sehen. Karten (20 Euro) sind bei LuxembourgTicket erhältlich. www.tnl.lu www.luxembourg-ticket.lu