Atemlos gegen die höfischen Zwänge
Vicky Krieps überzeugt in „Corsage“als lebenshungrige Kaiserin Sissi bei den Filmfestspielen in Cannes
Mit „Corsage“präsentiert Marie Kreutzer auf den 75. Filmfestspielen in Cannes einen starken Film. Vicky Krieps überzeugt in der Rolle der lebenshungrigen Kaiserin.
Der Sissi-Mythos scheint schon lange ausgeschöpft. Romy Schneiders’ Rolle, die Zeit ihres Lebens an ihr haften sollte, macht es schier unmöglich, dem Mythos um die Kaiserin etwas Neues hinzuzufügen. Sofia Coppola schuf mit „Marie-Antoinette“(2006) eine moderne Interpretation der österreichischen Prinzessin Marie Antoinette. Nun erschafft Marie Kreutzer mit ihrem Biopic quasi eine feministische Version des SissiStoffs.
„Corsage“, koproduziert von der Luxemburger Produktionsgesellschaft Samsa Film, wurde in der Reihe „Un certain regard“bei den 75. Filmfestspielen in Cannes präsentiert. Es stellt eine reifende Kaiserin Elisabeth von ÖsterreichUngarn in den Mittelpunkt, die die gesellschaftlichen Zwänge in eine Sinnkrise stürzen.
Die Luxemburgerin Vicky Krieps spielt die glamouröse Kaiserin aristokratisch, ausdrucksstark und sprunghaft. Die Klammer bildet ihr 40. Geburtstag. „Hoch soll sie leben – schön soll sie bleiben, dreimal so schön…!“Singt ihre Gefolgschaft und jubelt ihr zu, während der Kaiserin bei den Empfängen am Hof nur schwindelig wird. Denn bei und in der Folge ihrer Auftritte zerreißt sich die Presse das Maul, kommentieren die Besucher ihr Aussehen, ihr Gewicht, ihren Teint und scheinen mit zunehmenden Alter Makel an ihr auszumachen.
„Ein Mensch löst sich auf“, bemerkt Krieps als Kaiserin lakonisch und taucht in der Badewanne unter. Repräsentative Anlässe sind ihr lästig. Täglich wird ihr das Korsett angelegt und die Luft abgeschnürt. Täglich kämpft sie mit ihrem Gewicht und legt ein Maßband an ihrer Taille an.
Ein Kindskopf, der leben nur will
Die repräsentativen Zeremonien ersticken sie förmlich. Sie ist ein Kindskopf, der nur leben will. Kreutzer findet eine Filmsprache für den Freiheitsdrang der Kaiserin: In intensiven Einstellungen zeigt sie Krieps ausgelassen, wie sie mit ihren Hunden herumtollt, bei Ausritten oder beim Schwimmen.
Weltläufig wechselt Krieps die Sprachen, springt vom Englischen, ins Französische, ins Ungarische und wieder ins Deutsche. Auf den Empfängen erscheint sie abgehoben aristokratisch, beim Besuch in einer Siechenanstalt wirkt sie bunt und mystisch, zwischen Paradiesvogel und Fee. Lebenstoll flirtet sie mit ihrem Reitlehrer, bis ihr Sohn ihr zuflüstern wird: „Dein Reitlehrer steht Dir zu nah – die Leute reden schon“. Auf ihre Schelte hin, wird dieser von sich geben: „Bei aller Achtung, Mama: Das Kind bist Du!“Und für wahr, wird in der Spiegelung der Kinder nicht klar, wer kindischer ist. „Warum bin ich nicht tot und er am Leben?“, wird die Kaiserin nach einem Reitunfall brüllen.
Kaiser Franz-Joseph (Florian Teichtmeister) bleibt blass und überfordert angesichts der Sprunghaftigkeit seiner Frau. Immer wieder nimmt er sie zur Brust, ihre Aufgabe sei, repräsentativ zu sein, mehr nicht. „Ich möchte nicht, dass deine Rastlosigkeit auf sie übergeht“, schärft er ihr ein, schlechten Einfluss auf seine Tochter befürchtend.
Neben seiner Frau wirkt der Kaiser (mit abnehmbaren Backenbart)
geradezu hemdsärmlich. Hier scheint sich Kreutzer mit der Charakterzeichnung amüsiert zu haben, ist die Kaiserin ihrem Mann doch weit voraus in Intelligenz und Weitsicht. „Weih mich ein. Was habt ihr vor mit Sarajevo?“, fleht sie und prallt mit ihrem Interesse am Weltgeschehen nur an ihm ab.
Ihr Griff zur Zigarette erscheint im Film subversiv. Genussvoll und nervös raucht sie. Duldsam wird sie sich dem Diätplan fügen und sukzessive ausbrechen. Anfangs lässt sie sich beim Essen noch fügsam eine hauchdünne Orange reichen und wird immer ironischer: „All das dient doch nur dazu, dass wir wie Käfer auf dem Rücken liegen und die Beine in die Luft strecken.“
Sie lacht den Kaiser und sein autoritäres Gehabe aus, beschimpft einen Angestellten a Hof als „Arschloch“oder streckt dem Arzt die Zunge heraus, als der sie darauf hinweist, dass 40 die durchschnittliche Lebenserwartung von Frauen ist.
So ist „Corsage“nicht nur ein grandioser Kostümfilm, der in seiner ausgefallenen Perspektive und einigen fast surreal anmutenden Szenen an Giorgios Lanthimos’ „The Favourite“(2018) erinnert, sondern auch ein feministisches Statement in Zeiten von #MeToo – wider den Diätwahn und für das Leben. Die Regisseurin Marie Kreutzer überrascht durch starke ästhetische Einstellungen wie durch witzig-intelligente Dialoge.
Die Schauspielerin Vicky Krieps ist in der Rolle der sprunghaftnachdenklichen, lebenstollen Kaiserin, die um Selbstbestimmung ringt, umwerfend.