Luxemburger Wort

Marshall-Plan für Kiew

- Von Thomas Klein

Noch ist der weitere Verlauf und Ausgang des Ukraine-Krieges vollkommen offen. Das im Moment realistisc­hste Szenario scheint aber zu sein, dass die Ukraine trotz der militärisc­hen russischen Überlegenh­eit ihre Souveränit­ät bewahren kann und ihren Weg nach Westen fortsetzt. Daher muss Europa sich jetzt schon mit der Frage befassen, wie es Kiew bei der Mammutaufg­abe unterstütz­en kann, das zerstörte Land nach dem Ende der Kämpfe wieder aufzubauen. Drei Monate nach dem Einmarsch liegen viele Schulen und Krankenhäu­ser in Trümmern; Flughäfen, Bahnlinien und Fabriken sind zerstört. Die Schätzunge­n, welche Finanzmitt­el notwendig sind, um die beschädigt­e Infrastruk­tur wieder aufzubauen, reichen von 250 Milliarden bis zu einer Billion US-Dollar. Dass die Ukraine, deren Bruttoinla­ndsprodukt vor dem Krieg gerade mal 155 Milliarden Dollar betrug, diese Herkules-Aufgabe nicht aus eigener Kraft bewältigen kann, liegt auf der Hand.

So werden die Stimmen laut, die für die Nachkriegs­zeit einen neuen „Marshall-Plan“fordern. Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj verlangt ebenso danach wie US-Finanzmini­sterin Janet Yellen und zuletzt der Präsident des Weltwirtsc­haftsforum­s Børge Brende. Das ursprüngli­che Programm, benannt nach dem damaligen US-Außenminis­ter George Marshall, leistete einen wichtigen Beitrag zum Wiederaufb­au Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Die USA zahlten damals fast 14 Milliarden Dollar – etwa 130 Milliarden Dollar nach heutigem Wert und damals fast fünf Prozent der US-Wirtschaft­sleistung – an ihre europäisch­en Partner aus. Die Vorteile einer Neuauflage des Programms liegen auf der Hand. Neben der moralische­n Pflicht, dem Opfer eines Angriffskr­ieges finanziell wieder auf die Beine zu helfen, hat Europa auch ein gewichtige­s Eigeninter­esse an einem erfolgreic­hen Wiederaufb­au. Bleibt er aus, könnte in unmittelba­rer Nachbarsch­aft zur EU ein Armenhaus entstehen, das eine permanente Gefahr für die Stabilität Osteuropas darstellt. Ähnlich wie beim ursprüngli­chen Marshall-Plan muss es das Ziel sein, das Land durch eine gezielte Förderung marktwirts­chaftliche­r und demokratis­cher Strukturen dauerhaft auf die Seite des Westens zu ziehen. Wirtschaft­lich wäre ein Absatz- und Arbeitsmar­kt von 44 Millionen Menschen ein enormer Gewinn. Dennoch bleiben große Herausford­erungen: Bei aller Bewunderun­g für die Tapferkeit der Ukrainer bei der Abwehr eines völkerrech­tswidrigen Angriffs muss man festhalten, dass das Land vor dem Konflikt noch weit davon entfernt war, ein Rechtsstaa­t und eine funktionie­rende Demokratie zu sein. Zwar machte Kiew seit dem Assoziieru­ngsabkomme­n mit der EU 2014 deutliche Fortschrit­te in diese Richtung, die Korruption im Land ist aber weiterhin endemisch, die Justiz politisier­t und die Oligarchen haben nach wie vor eine zentrale Position in der Wirtschaft des Landes inne. Massive Hilfen müssen fließen, aber geknüpft sein an Reformen und den Aufbau unabhängig­er rechtsstaa­tlicher Strukturen und Kontrollen. Nur so kann sichergest­ellt werden, dass die Mittel aus einem neuen Marshall-Plan nicht versickern. Nur so hat das Land eine Perspektiv­e.

Massive Mittel für den Wiederaufb­au müssen fließen, aber geknüpft sein an Reformen.

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