Marshall-Plan für Kiew
Noch ist der weitere Verlauf und Ausgang des Ukraine-Krieges vollkommen offen. Das im Moment realistischste Szenario scheint aber zu sein, dass die Ukraine trotz der militärischen russischen Überlegenheit ihre Souveränität bewahren kann und ihren Weg nach Westen fortsetzt. Daher muss Europa sich jetzt schon mit der Frage befassen, wie es Kiew bei der Mammutaufgabe unterstützen kann, das zerstörte Land nach dem Ende der Kämpfe wieder aufzubauen. Drei Monate nach dem Einmarsch liegen viele Schulen und Krankenhäuser in Trümmern; Flughäfen, Bahnlinien und Fabriken sind zerstört. Die Schätzungen, welche Finanzmittel notwendig sind, um die beschädigte Infrastruktur wieder aufzubauen, reichen von 250 Milliarden bis zu einer Billion US-Dollar. Dass die Ukraine, deren Bruttoinlandsprodukt vor dem Krieg gerade mal 155 Milliarden Dollar betrug, diese Herkules-Aufgabe nicht aus eigener Kraft bewältigen kann, liegt auf der Hand.
So werden die Stimmen laut, die für die Nachkriegszeit einen neuen „Marshall-Plan“fordern. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verlangt ebenso danach wie US-Finanzministerin Janet Yellen und zuletzt der Präsident des Weltwirtschaftsforums Børge Brende. Das ursprüngliche Programm, benannt nach dem damaligen US-Außenminister George Marshall, leistete einen wichtigen Beitrag zum Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Die USA zahlten damals fast 14 Milliarden Dollar – etwa 130 Milliarden Dollar nach heutigem Wert und damals fast fünf Prozent der US-Wirtschaftsleistung – an ihre europäischen Partner aus. Die Vorteile einer Neuauflage des Programms liegen auf der Hand. Neben der moralischen Pflicht, dem Opfer eines Angriffskrieges finanziell wieder auf die Beine zu helfen, hat Europa auch ein gewichtiges Eigeninteresse an einem erfolgreichen Wiederaufbau. Bleibt er aus, könnte in unmittelbarer Nachbarschaft zur EU ein Armenhaus entstehen, das eine permanente Gefahr für die Stabilität Osteuropas darstellt. Ähnlich wie beim ursprünglichen Marshall-Plan muss es das Ziel sein, das Land durch eine gezielte Förderung marktwirtschaftlicher und demokratischer Strukturen dauerhaft auf die Seite des Westens zu ziehen. Wirtschaftlich wäre ein Absatz- und Arbeitsmarkt von 44 Millionen Menschen ein enormer Gewinn. Dennoch bleiben große Herausforderungen: Bei aller Bewunderung für die Tapferkeit der Ukrainer bei der Abwehr eines völkerrechtswidrigen Angriffs muss man festhalten, dass das Land vor dem Konflikt noch weit davon entfernt war, ein Rechtsstaat und eine funktionierende Demokratie zu sein. Zwar machte Kiew seit dem Assoziierungsabkommen mit der EU 2014 deutliche Fortschritte in diese Richtung, die Korruption im Land ist aber weiterhin endemisch, die Justiz politisiert und die Oligarchen haben nach wie vor eine zentrale Position in der Wirtschaft des Landes inne. Massive Hilfen müssen fließen, aber geknüpft sein an Reformen und den Aufbau unabhängiger rechtsstaatlicher Strukturen und Kontrollen. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Mittel aus einem neuen Marshall-Plan nicht versickern. Nur so hat das Land eine Perspektive.
Massive Mittel für den Wiederaufbau müssen fließen, aber geknüpft sein an Reformen.