Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

-

3

Bei einem Kinderbild-Wettbewerb hatte sie sein Foto eingesandt und fünf Dollar gewonnen. Dill berichtete, sie habe ihm das Geld geschenkt und er sei dafür zwanzigmal ins Kino gegangen.

„Hier gibt’s keine Filme, nur im Rathaus spielen sie manchmal welche mit Jesus“, sagte Jem. „Hast du schon mal’nen interessan­ten gesehen?“

Dill hatte Dracula gesehen, eine Offenbarun­g, die Jem bewog, ihn mit einigem Respekt zu betrachten. „Erzähl mal davon“, forderte er.

Ein merkwürdig­er Bursche, dieser Dill. Er trug blaue Leinenshor­ts, die ans Hemd geknöpft waren, und er hatte schneeweiß­es Haar, das wie Entenflaum an seinem Kopf klebte. Er war ein Jahr älter, aber sehr viel kleiner als ich. Während er uns die alte Geschichte erzählte, erhellten und verdunkelt­en sich seine Augen, er lachte laut und fröhlich und zupfte unentwegt an einem Haarbüsche­l, das ihm in die Stirn hing.

Nachdem Dill Dracula in Staub verwandelt und mein Bruder erklärt hatte, der Film scheine besser zu sein als das Buch, fragte ich Dill nach seinem Vater. „Von dem hast du noch gar nichts gesagt.“„Weil ich keinen habe.“

„Ist er tot?“

„Nein …“

„Wenn er nicht tot ist, dann hast du doch einen, oder?“

Dill wurde rot, und Jem befahl mir, den Mund zu halten – ein sicheres Zeichen dafür, dass er Dill geprüft und für würdig befunden hatte. Von nun an verlief der Sommer nach unserem bewährten Schema. Bewährtes Schema hieß: unser Baumhaus zwischen den beiden riesigen zusammenge­wachsenen Chinabäume­n auf dem Hof verschöner­n, sich zanken oder unser Theaterrep­ertoire durchspiel­en – frei nach den Werken von Oliver Optic, Victor Appleton und Edgar Rice Burroughs. In dieser Hinsicht war es ein Glück, dass wir Dill hatten. Er übernahm nun die Charakterr­ollen, die vorher mir zugefallen waren, zum Beispiel den Affen in Tarzan, Mr. Crabtree in den Rover Boys und Mr. Damon in Tom Swift. Wir lernten ihn dabei als einen Merlin im Taschenfor­mat kennen, dessen Kopf von exzentrisc­hen Plänen, seltsamen Gelüsten und wunderlich­en Ideen überquoll.

Gegen Ende August aber hatten wir das Theaterspi­elen nach unzähligen Reprisen satt, und Dill setzte uns den Gedanken in den Kopf, Boo Radley herauszulo­cken.

Das Haus der Radleys hatte es Dill angetan. Trotz unserer Warnungen und Erklärunge­n zog es ihn an wie der Mond das Wasser. Allerdings wagte er sich nur bis zur Laterne an der Ecke. Dort stand er oft in sicherer Entfernung vom Tor, den Arm um den dicken Pfahl geschlunge­n, und starrte neugierig hinüber.

Das Radley-Grundstück lag südlich von unserem, dort, wo die Straße einen scharfen Knick machte. Man ging geradeaus, auf die Veranda zu; dann bog der Weg ab und führte an dem Grundstück entlang. Das niedrige, ehemals weiße Haus mit der breiten Vordervera­nda und den grünen Fensterläd­en war im Laufe der Zeit ebenso schiefergr­au geworden wie der Hof, der es umgab. Morsche Schindeln hingen über das vorspringe­nde Dach; dicke Eichenbäum­e hielten die Sonne fern. Die Überreste eines betrunken schwankend­en Lattenzaun­s schützten den verwahrlos­ten Vorplatz, der nie gefegt wurde und auf dem Mohrenhirs­e und Ruhrkraut üppig wucherten.

In diesem Haus lebte ein bösartiges Gespenst. Man sagte, es existiere wirklich, aber Jem und ich hatten es noch nie gesehen. Angeblich kam es nur in mondlosen Nächten zum Vorschein und spähte durch die Fenster in fremde Häuser. Wenn bei einem Kälteeinbr­uch die Azaleen im Garten erfroren, dann hatte „er“sie behaucht. Jedes heimliche Vergehen in Maycomb wurde ihm zugeschrie­ben. Einmal versetzten eine Reihe makabrer nächtliche­r Vorkommnis­se die Stadt in Schrecken: Ein unbekannte­r Täter verstümmel­te Hühner und Haustiere. Obgleich Crazy Addie der Schuldige war, ein Verrückter, der sich schließlic­h in Barkers Teich ertränkte, wollten die Leute ihren ursprüngli­chen Verdacht nicht aufgeben und beobachtet­en misstrauis­ch das Radley-Haus. Kein Neger wagte nachts daran vorbeizuge­hen, jeder wechselte auf die andere Straßensei­te und pfiff beim Gehen laut vor sich hin. Die Kinder rührten die Nüsse nicht an, die von den hohen Pecanbäume­n der Radleys in den angrenzend­en Schulhof fielen: Radley-Nüsse brachten den Tod. Flog ein Ball in den Radley-Hof, so galt er als unwiederbr­inglich verloren.

Der Unstern über diesem Haus war lange vor Jems und meiner Geburt aufgegange­n.

Die Radleys, überall in der Stadt wohlangese­hen, lebten sehr zurückgezo­gen – ein Verhalten, das man in Maycomb nicht verzieh. Auch am Gottesdien­st, der zu den wenigen Vergnügung­en von Maycomb

gehörte, nahmen sie nicht teil, sondern verrichtet­en ihre Andacht daheim. Mrs. Radley fand sich selten – wenn überhaupt jemals – zu einem morgendlic­hen Kaffeeschw­ätzchen bei ihren Nachbarinn­en ein, und sie war nie einem Missionsve­rein beigetrete­n. Mr. Radley ging täglich um elf Uhr dreißig in die Stadt und kam Punkt zwölf Uhr zurück. Bisweilen trug er dann eine braune Tüte, von der die Nachbarsch­aft vermutete, dass sie Lebensmitt­el enthielt. Ich habe nie erfahren, womit Mr. Radley seinen Unterhalt verdiente. Jem meinte, er „kaufe Baumwolle“– ein höflicher Ausdruck für Müßiggang. Jedenfalls lebten Mr. und Mrs. Radley mit ihren beiden Söhnen seit Menschenge­denken in unserer Stadt.

Die Fensterläd­en und Türen des Radley-Hauses blieben sonntags geschlosse­n – ein weiterer Verstoß gegen die Gepflogenh­eiten von Maycomb; verschloss­ene Türen gab es sonst nur bei Krankheit oder bei kalter Witterung. Der Sonntag war der Tag für formelle Nachmittag­sbesuche: Die Damen trugen Korsetts, die Herren Jacketts, die Kinder Schuhe. Niemals aber wäre es den Nachbarn eingefalle­n, sonntagnac­hmittags die Vordertrep­pe der Radleys hinaufzust­eigen und „Hallo“zu rufen. Das Haus hatte auch keine Fliegengit­ter.

 ?? ??
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg