Wer die Nachtigall stört
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Bei einem Kinderbild-Wettbewerb hatte sie sein Foto eingesandt und fünf Dollar gewonnen. Dill berichtete, sie habe ihm das Geld geschenkt und er sei dafür zwanzigmal ins Kino gegangen.
„Hier gibt’s keine Filme, nur im Rathaus spielen sie manchmal welche mit Jesus“, sagte Jem. „Hast du schon mal’nen interessanten gesehen?“
Dill hatte Dracula gesehen, eine Offenbarung, die Jem bewog, ihn mit einigem Respekt zu betrachten. „Erzähl mal davon“, forderte er.
Ein merkwürdiger Bursche, dieser Dill. Er trug blaue Leinenshorts, die ans Hemd geknöpft waren, und er hatte schneeweißes Haar, das wie Entenflaum an seinem Kopf klebte. Er war ein Jahr älter, aber sehr viel kleiner als ich. Während er uns die alte Geschichte erzählte, erhellten und verdunkelten sich seine Augen, er lachte laut und fröhlich und zupfte unentwegt an einem Haarbüschel, das ihm in die Stirn hing.
Nachdem Dill Dracula in Staub verwandelt und mein Bruder erklärt hatte, der Film scheine besser zu sein als das Buch, fragte ich Dill nach seinem Vater. „Von dem hast du noch gar nichts gesagt.“„Weil ich keinen habe.“
„Ist er tot?“
„Nein …“
„Wenn er nicht tot ist, dann hast du doch einen, oder?“
Dill wurde rot, und Jem befahl mir, den Mund zu halten – ein sicheres Zeichen dafür, dass er Dill geprüft und für würdig befunden hatte. Von nun an verlief der Sommer nach unserem bewährten Schema. Bewährtes Schema hieß: unser Baumhaus zwischen den beiden riesigen zusammengewachsenen Chinabäumen auf dem Hof verschönern, sich zanken oder unser Theaterrepertoire durchspielen – frei nach den Werken von Oliver Optic, Victor Appleton und Edgar Rice Burroughs. In dieser Hinsicht war es ein Glück, dass wir Dill hatten. Er übernahm nun die Charakterrollen, die vorher mir zugefallen waren, zum Beispiel den Affen in Tarzan, Mr. Crabtree in den Rover Boys und Mr. Damon in Tom Swift. Wir lernten ihn dabei als einen Merlin im Taschenformat kennen, dessen Kopf von exzentrischen Plänen, seltsamen Gelüsten und wunderlichen Ideen überquoll.
Gegen Ende August aber hatten wir das Theaterspielen nach unzähligen Reprisen satt, und Dill setzte uns den Gedanken in den Kopf, Boo Radley herauszulocken.
Das Haus der Radleys hatte es Dill angetan. Trotz unserer Warnungen und Erklärungen zog es ihn an wie der Mond das Wasser. Allerdings wagte er sich nur bis zur Laterne an der Ecke. Dort stand er oft in sicherer Entfernung vom Tor, den Arm um den dicken Pfahl geschlungen, und starrte neugierig hinüber.
Das Radley-Grundstück lag südlich von unserem, dort, wo die Straße einen scharfen Knick machte. Man ging geradeaus, auf die Veranda zu; dann bog der Weg ab und führte an dem Grundstück entlang. Das niedrige, ehemals weiße Haus mit der breiten Vorderveranda und den grünen Fensterläden war im Laufe der Zeit ebenso schiefergrau geworden wie der Hof, der es umgab. Morsche Schindeln hingen über das vorspringende Dach; dicke Eichenbäume hielten die Sonne fern. Die Überreste eines betrunken schwankenden Lattenzauns schützten den verwahrlosten Vorplatz, der nie gefegt wurde und auf dem Mohrenhirse und Ruhrkraut üppig wucherten.
In diesem Haus lebte ein bösartiges Gespenst. Man sagte, es existiere wirklich, aber Jem und ich hatten es noch nie gesehen. Angeblich kam es nur in mondlosen Nächten zum Vorschein und spähte durch die Fenster in fremde Häuser. Wenn bei einem Kälteeinbruch die Azaleen im Garten erfroren, dann hatte „er“sie behaucht. Jedes heimliche Vergehen in Maycomb wurde ihm zugeschrieben. Einmal versetzten eine Reihe makabrer nächtlicher Vorkommnisse die Stadt in Schrecken: Ein unbekannter Täter verstümmelte Hühner und Haustiere. Obgleich Crazy Addie der Schuldige war, ein Verrückter, der sich schließlich in Barkers Teich ertränkte, wollten die Leute ihren ursprünglichen Verdacht nicht aufgeben und beobachteten misstrauisch das Radley-Haus. Kein Neger wagte nachts daran vorbeizugehen, jeder wechselte auf die andere Straßenseite und pfiff beim Gehen laut vor sich hin. Die Kinder rührten die Nüsse nicht an, die von den hohen Pecanbäumen der Radleys in den angrenzenden Schulhof fielen: Radley-Nüsse brachten den Tod. Flog ein Ball in den Radley-Hof, so galt er als unwiederbringlich verloren.
Der Unstern über diesem Haus war lange vor Jems und meiner Geburt aufgegangen.
Die Radleys, überall in der Stadt wohlangesehen, lebten sehr zurückgezogen – ein Verhalten, das man in Maycomb nicht verzieh. Auch am Gottesdienst, der zu den wenigen Vergnügungen von Maycomb
gehörte, nahmen sie nicht teil, sondern verrichteten ihre Andacht daheim. Mrs. Radley fand sich selten – wenn überhaupt jemals – zu einem morgendlichen Kaffeeschwätzchen bei ihren Nachbarinnen ein, und sie war nie einem Missionsverein beigetreten. Mr. Radley ging täglich um elf Uhr dreißig in die Stadt und kam Punkt zwölf Uhr zurück. Bisweilen trug er dann eine braune Tüte, von der die Nachbarschaft vermutete, dass sie Lebensmittel enthielt. Ich habe nie erfahren, womit Mr. Radley seinen Unterhalt verdiente. Jem meinte, er „kaufe Baumwolle“– ein höflicher Ausdruck für Müßiggang. Jedenfalls lebten Mr. und Mrs. Radley mit ihren beiden Söhnen seit Menschengedenken in unserer Stadt.
Die Fensterläden und Türen des Radley-Hauses blieben sonntags geschlossen – ein weiterer Verstoß gegen die Gepflogenheiten von Maycomb; verschlossene Türen gab es sonst nur bei Krankheit oder bei kalter Witterung. Der Sonntag war der Tag für formelle Nachmittagsbesuche: Die Damen trugen Korsetts, die Herren Jacketts, die Kinder Schuhe. Niemals aber wäre es den Nachbarn eingefallen, sonntagnachmittags die Vordertreppe der Radleys hinaufzusteigen und „Hallo“zu rufen. Das Haus hatte auch keine Fliegengitter.