Abwehrkampf im Bauschutt
An der Donbass-Front droht zehntausend ukrainischen Soldaten die Einkesselung – der Armee mangelt es an schweren Waffen
Auf der Straße von Bachmut nach Lisitschansk habe man die russischen Okkupanten ordentlich unter Feuer genommen und zurückgeworfen, schrieb der ukrainische Telegramkanal Ressentiment gestern. „Jetzt wird heftig gekämpft, der Feind wird zermürbt und in Feuertaschen gelockt. Alle Mittel sind aktiv im Einsatz, einschließlich Kamikaze-Drohnen.“Und das Portal focus.ua berichtet, die ukrainischen Truppen hätten eine russische Straßensperre mit einer 50 Mann starken Besatzung vernichtet.
Aber diese Siegesnachrichten haben einen Pferdefuß. Weil der Feind danach offenbar die Hauptstraße erreicht hat, die die umkämpften Frontstädte Lisitschansk und Sewerodonezk mit dem ukrainischen Hinterland verbindet. Beiden Städten droht die Einkreisung, auch wenn sich die russischen Zangenarme nordwestlich von Poposna und südöstlich von
Liman nur langsam aufeinander zubewegen. Damit könnte sich die Kesselschlacht von Debalzewo 2015 wiederholen, als das ukrainische Oberkommando den Transportknotenpunkt Debalzewo trotz der offensichtlichen Einkreisungsgefahr nördlich von Donezk nicht aufgeben wollte. Am Ende mussten mehrere tausend ukrainische Soldaten fliehen und ihre schweren Waffen zurücklassen. Wie damals droht der Verlust der Hauptrückzugstraße, auch eine noch offene Nebenstraße liegt im Schussfeld russischer Haubitzen.
Weit überlegene Feuerkraft
Witali Kisseljow, Innenminister der Lugansker Rebellenrepublik, verkündete bereits am 17. Mai, im Kessel von Sewerodonezk befänden sich 15 000 bis 16 000 Ukrainer. Laut ukrainischen Experten sollen dort vier ukrainische Brigaden mit noch 10 000 bis 15 000 Soldaten konzentriert sein.
Dass der Feind seit Wochen versucht, sie einzukesseln, ist keine
Neuigkeit. „Die russischen Kräfte koordinieren weiter ihre Kräfte zur Eroberung Sewerodonezks von Norden und Süden, was zu einer kleineren Einkreisung führen könnte.“Das schrieb das US-Institut für Kriegsforschung ISW schon am 15. Mai über den offensichtlichen Verzicht des russischen Oberkommandos auf eine umfassende Kesselschlacht im Donbass zugunsten begrenzter Zangenbewegungen.
Dabei setzen die Russen vor allem auf ihre weit überlegene Feuerkraft. „Ihre Taktik hat sich nicht geändert“, sagt der Frontkommandeur Petro Kusyk dem Portal Ukrainska Prawda. „Sie bearbeiten unsere Stellungen massiv mit
Artillerie, dann rückt Infanterie vor, manchmal zusammen mit Panzern.“Die Infanterie erleide Verluste, weiche zurück, die Artillerie schalte sich wieder ein. „Die Artillerie arbeitet vier Stunden, dann Infanterieangriff, drei oder vier Stunden Artillerie, wieder Infanterieangriff.“Die Russen eroberten keine Städte, sondern machten Bauschutt aus ihnen. „Auf jede unserer Granaten antworten sie mit 20 bis 50.“
50 bis 100 Gefallene am Tag
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach unlängst von täglich 50 bis 100 Gefallenen an der Front. „An dem Punkt, an dem wir kämpfen“, kommentiert Kusyk, „ist diese Zahl untertrieben.“Aber in der Öffentlichkeit dominieren Durchhalteparolen. „Wenn die Russen bis Ende dieser Woche keinen Erfolg haben“, verspricht Serhi Haidai, der Chef der Lugansker Gebietsverwaltung, „wird ihnen der Atem ausgehen und sich unsere Lage zumindest stabilisieren.“
Aber die Übermacht der russischen Artillerie bleibt. Und auf das schwere Geschütz, das der Westen liefern will, wartet die Ukraine zum großen Teil noch. Bisher würden nur Einzelstücke eingesetzt, sagt Verteidigungsminister Oleksi Resnikow, es sei ungewiss, wie viele Wochen es dauere, bis das Gros der Waffen und die daran ausgebildeten Artilleristen an der Front eintreffen. „Die Zeit vergeht unbeschreiblich langsam.“In den Vororten von Sewerodonezk wird schon gekämpft, aber ein Rückzug der Ukrainer aus der umklammerten Stadt ist nicht in Sicht.
„Ich verstehe, ich soll sagen, dass wir siegen, dass wir durchhalten, aber ich beurteile die Lage nüchtern“, erklärt Frontkommandeur Kusyk.
Es werde bis auf Weiteres keine Waffenparität geben und die Lage noch schwieriger werden. „Es ist falsch, sich nur auf das Heldentum unserer Soldaten zu verlassen.“
Auf jede unserer Granaten antworten sie mit 20 bis 50. Frontkommandeur Petro Kusyk