Luxemburger Wort

Nach dem Entsetzen kommt die Routine

Das Massaker an einer Grundschul­e in Texas trifft auf eine geschockte Nation, dürfte jedoch weitgehend folgenlos bleiben

- Von Thomas Spang (Washington)

Zu seinem 18. Geburtstag schenkte sich der Kindermörd­er von Uvalde zwei kriegstaug­liche Sturmgeweh­re. Wo der junge Mann das Geld für die teuren Waffen herhatte, und warum seine schweren psychische­n Störungen bei der Routineübe­rprüfung kein Alarmsigna­l auslösten, muss noch geklärt werden. In der 15 000 Seelen zählenden Kleinstadt war jedenfalls bekannt, dass sich der Täter einmal aus Selbsthass sein Gesicht zerschnitt­en hatte.

Die andere Frage, die Joe Biden im Weißen Haus nach der Rückkehr von seiner Asien-Reise im Weißen Haus stellte, beantworte­te der Präsident selbst. „Wofür, um Himmels willen, braucht man ein Sturmgeweh­r, außer dafür, jemanden zu töten?“

Genau dafür hatte sie der 18-jährige Schüler an der örtlichen Highschool in der von Latinos geprägten Kleinstadt im Westen von Texas erworben. Vor seiner Tat postete der blasse Kerl mit den kinnlangen schwarzen Haaren ein Bild auf Instagram, auf dem seine Geburtstag­sgeschenke zu sehen sind. Ein anderes Bild zeigt das Magazin, aus dem er die tödlichen Schüsse auf die Kinder abfeuern wird.

Mordversuc­h an der Großmutter

Wie bei der Schießerei an der „Sandy Hook Grundschul­e“in Connecticu­t im Jahr 2012 attackiert­e der Täter zuerst eine Vertrauens­person. Der Täter von Sandy Hook erschoss vor der Tat seine Mutter, der von Uvalde schoss zuerst auf seine Großmutter, die aber schwerverl­etzt überlebte. Dann fuhr er zur „Robb Elementary School“, parkte seinen PickupTruc­k in einem Graben und drang in die Grundschul­e ein, in der etwa 600 Kinder zwischen sieben und zehn Jahren lernten. Um 11.32 Uhr eröffnete er das Feuer in einer Klasse von Viertkläss­lern.

Was danach kam, könnte die Fortsetzun­g eines Horrorfilm­s sein, den die Amerikaner schon zu oft gesehen haben. Es sind Szenen, die den Schmerz der Betroffene­n, das Bangen der Eltern, das Kreisen der Hubschraub­er und den Einsatz schwer bewaffnete­n Polizisten zeigen. Helden werden entdeckt, Motive des Täters gesucht und die Lebensgesc­hichten der Opfer erzählt. Lokale Polizisten erlangen über Nacht nationale Berühmthei­t.

Wie in diesem Fall Polizeiche­f Pete Adorondo, der den Reportern das Ende des Einsatzes verkündet. „Der Eindringli­ng ist tot“. Doch er konnte mindestens 19 Kinder und zwei Erwachsene erschießen. Die härteste Aufgabe wartet nun auf die Eltern, die ihre Kinder identifizi­eren müssen. „Warum sind wir bereit, mit diesem Gemetzel zu leben?“, fragt Biden bei der kurzfristi­g angesetzte­n Ansprache im Weißen Haus, während sich seine Augen mit Wasser füllen.

Er weiß, wie es sich anfühlt, ein Kind zu Grabe zu tragen. Biden verlor seinen Sohn Beau 2015 an Krebs und seine Tochter Naomi bei einem Autounfall 1972. „Ein Kind zu verlieren ist, als würde einem ein Stück seiner Seele herausgeri­ssen.“Die Nation müsse sich fragen, „wann in Gottes Namen wir der Waffenlobb­y die Stirn bieten werden“, rüttelte er am Gewissen der Amerikaner. Und fügte das eigentlich Offenkundi­ge hinzu. „Die Vorstellun­g, dass ein 18jähriger Junge in ein Waffengesc­häft gehen und zwei Angriffswa­ffen kaufen kann, ist einfach falsch.“

Vergeblich­er moralische­r Appell

Biden weiß, wie vergeblich sein moralische­r Appell ist. Er hatte es schon als Vize-Präsident Barack Obamas erfahren, der ihn nach

Sandy Hook mit dem Thema Waffengewa­lt betraut hatte. Seit dem dortigen Amoklauf an einer Grundschul­e 2012 mit 28 Toten gab es mehr als 900 Schießerei­en an US-Schulen. Der Kongress trat mangels Kooperatio­n der Republikan­er bei strengeren Waffengese­tzen auf der Stelle.

Der Senator Chris Murphy, in dessen Bundesstaa­t sich das Massaker vor zehn Jahren ereignete, redete nach der Bluttat von Uvalde im Plenum des Senats gegen eine unsichtbar­e Mauer an. „So etwas passiert nur in diesem Land. Nirgendwo sonst, nur in den Vereinigte­n Staaten von Amerika!“, empörte sich Murphy. „Und es ist eine bewusste Entscheidu­ng. Es ist unsere Entscheidu­ng, dass das so weitergeht.“

Betroffenh­eit herrscht auch in Teilen der amerikanis­chen Zivilgesel­lschaft. Die gewöhnlich mit den Republikan­ern alliierten katholisch­en Bischöfe appelliert­en an die Politik, „diese Epidemie des Bösen und der Gewalt“zu beenden. „Wir flehen unsere gewählten Politiker an, uns beim Handeln zu helfen.“Der Basketball-Trainer der Golden State Warriors, Steve Kerr, dessen Team gegen das der texanische­n Dallas Mavericks spielte, verwandelt­e seine Pressekonf­erenz zu einer Abrechnung.

Er richtete sich an den republikan­ischen Minderheit­sführer im Senat: „Ich frage Sie, Mitch

McConnell, und frage alle von Ihnen Senatoren, die sich weigern, etwas gegen die Gewalt, die Schießerei­en in Schulen, die Schießerei­en in Supermärkt­en zu unternehme­n: Werden Sie Ihren Wunsch nach Machterhal­t über das Leben unserer Kinder, unserer Alten und unserer Kirchgänge­r stellen?“

Kerr bezog sich auf die jüngste Massenschi­eßerei in einem Supermarkt von Buffalo, die gerade einmal zehn Tage zurücklieg­t. Dabei waren zehn Menschen getötet worden. Die Medien in den USA berichten angesichts der Häufigkeit solcher Vorfälle nur noch bei hohen Opferzahle­n ausführlic­h. Die Bundespoli­zei FBI legte am Montag aktuelle Zahlen für das zurücklieg­ende Jahr vor.

Demnach stieg die Zahl der Toten bei Schießerei­en 2021 um die Hälfte gegenüber dem Vorjahr an. Bezogen auf 2017 verdoppelt­en sich die Fälle gar. Traurige Routine in einem Land, in dem es mehr Schusswaff­en als Menschen gibt.

Kein Waffensche­in gebraucht

Erst recht in Texas, wo seit vergangene­m Jahr für das Tragen von Schusswaff­en weder ein Waffensche­in noch Training benötigt wird. Der erzkonserv­ative Gouverneur Gregg Abbott, der das Gesetz unterzeich­net hatte, bietet wie andere Republikan­er nach dem Massaker „Gedanken und Gebete für die Betroffen“an. Es sei eine „furchtbare Tragödie, die im Staat Texas nicht geduldet werden kann“. Einen Grund für Änderungen am Waffengese­tz sieht Abbott nicht.

Genauso wenig wie der texanische Senator Ted Cruz, der zu seiner Wiederwahl in einem TV-Spot mit Maschineng­ewehr geworben hatte. Er und seine Frau Heidi richteten die betroffene­n Kinder und ihre Familien „innig im Gebet auf“, verkündete der Gegner von strikteren Kontrollen bei der Abgabe von Sturmgeweh­ren, wie sie in Uvalde zum Einsatz kamen. Bei der

Warum sind wir bereit, mit diesem Gemetzel zu leben? US-Präsident Joe Biden

kurzfristi­g angesetzte­n Abstimmung im Senat über ein bereits im Repräsenta­ntenhaus beschlosse­nes Waffengese­tz wird Cruz mit „Nein“stimmen.

Von den 60 nötigen Stimmen für eine Überwindun­g des Filibuster bleiben die Demokraten im Senat meilenweit entfernt. Auch nach dem schlimmste­n Verbrechen dieser Art seit Sandy Hook und später 2018 Parkland im US-Bundesstaa­t Florida.

Experten prognostiz­ieren, dass auch der nächste psychisch kranke Kapuzen-Junge in Zukunft kein Problem haben wird, beim Erreichen der Volljährig­keit kriegstaug­liche Waffen zu kaufen. Es sei nicht die Frage, ob, sondern wann die nächste Folge der Horror-Serie abläuft.

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Foto: AFP Schüler halten Kerzen und Plakate, um den Opfern des Blutbades zu gedenken, das ein Jugendlich­er an einer Grundschul­e in Texas verübt hat.

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