Wer die Nachtigall stört
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Miss Caroline schien nicht zu ahnen, dass die zerlumpten Erstklässler in Drillichhemden und Kleidern aus Mehlsäcken, die, seit sie laufen konnten, Baumwolle gepflückt und Schweine gefüttert hatten, gegen fantasievolle Literatur immun waren.
„Ach, ist das nicht reizend?“, sagte sie, als sie die Geschichte beendet hatte.
Dann ging sie zur Tafel und schrieb in riesigen Blockbuchstaben das Alphabet an.
„Weiß jemand, was das bedeutet?“, fragte sie, zur Klasse gewandt.
Natürlich wusste das jeder, denn die meisten waren im vorigen Schuljahr sitzengeblieben.
Sie rief mich auf, vermutlich weil sie meinen Namen kannte. Während ich das Alphabet ablas, bildete sich zwischen ihren Augenbrauen eine leichte Falte. Nachdem ich auch noch den größten Teil der Fibel und die Börsenkurse aus dem Mobile Register zum Besten gegeben hatte, entdeckte sie, dass ich schon lesen konnte. Sie sah mich mit unverhohlener Missbilligung an und sagte, ich solle meinen Vater bitten, mich künftig nicht mehr zu unterrichten, denn das behindere mich nur.
„Unterrichten?“, rief ich überrascht. „Aber er hat mich nie unterrichtet, Miss Caroline. Dazu hatte Atticus gar keine Zeit.“Und als sie lächelnd den Kopf schüttelte, fügte ich hinzu: „Er ist doch abends so müde, dass er bloß im Wohnzimmer sitzt und liest.“
„Wer hat’s dir denn sonst beigebracht?“, fragte Miss Caroline freundlich. „Jemand muss es doch getan haben. Oder bist du etwa zeitunglesend zur Welt gekommen?“
„Jem sagt, ja. Er hat ein Buch gelesen, in dem ich eine Bullfinch war und keine Finch. Jem sagt, mein richtiger Name ist Jean Louise Bullfinch, und ich bin vertauscht worden, als ich geboren wurde. In Wirklichkeit bin ich ein …“
Miss Caroline glaubte offenbar, dass ich ihr etwas vorschwindelte. „Wir wollen unserer Fantasie nicht gar zu freien Lauf lassen, mein Kind. Sage nur deinem Vater, er soll dir keinen Unterricht mehr geben: Das Lesen lernt man am besten mit unbelastetem Verstand. Sag ihm, das wäre jetzt meine Sache und ich würde versuchen, den Schaden wiedergutzumachen.“„Wie bitte?“
„Dein Vater weiß nicht, wie man unterrichtet. So, du kannst dich setzen.“
Ich murmelte eine Entschuldigung, setzte mich hin und grübelte über mein Verbrechen nach. Ich hatte nie die Absicht gehabt, lesen zu lernen, aber irgendwie war es eben passiert. Vielleicht beim Durchstöbern der Tageszeitungen? Oder während der langen Stunden in der Kirche? Soweit mein Gedächtnis zurückreichte, konnte ich Kirchenlieder lesen.
Wenn ich’s mir recht überlegte, war mir das Lesen einfach zugeflogen, genauso wie die Fähigkeit, die Klappe meiner Hemdhose zuzuknöpfen, ohne den Kopf zu wenden, oder die Schnürsenkel zur Schleife zu binden. Ich wusste nicht mehr, wann sich die Zeilen über Atticus’ wanderndem Zeigefinger in Wörter getrennt hatten, aber ich erinnerte mich an keinen Abend, an dem ich nicht darauf gestarrt und zugehört hatte: Tagesnachrichten, Gesetze, die in Kraft traten, die Memoiren von Lorenzo Dow – alles, was Atticus gerade las, wenn ich abends auf seinen Schoß geklettert war. Bis mich die Angst befiel, darauf verzichten zu müssen, hatte ich nie gern gelesen. Man atmet ja auch nicht gern.
Da mir klar war, dass ich Miss Caroline geärgert hatte, hüllte ich mich für den Rest der Stunde in Schweigen und starrte zum Fenster hinaus. In der Pause kam Jem und fragte, wie es mir ergangen sei. Ich erzählte ihm alles.
„Wenn ich nicht hierbleiben müsste, würde ich weglaufen, Jem. Die verdammte Lady sagt, Atticus hat mir das Lesen beigebracht und er soll damit aufhören und …“
„Reg dich nicht auf, Scout“, tröstete er mich. „Unser Lehrer sagt, Miss Caroline führt ’ne neue Lehrmethode ein. Die hat sie im College gelernt, und sie wird bald in allen Klassen angewendet. Dann braucht man nicht mehr so viel aus Büchern zu lernen. Wenn du zum Beispiel etwas über Kühe lernen willst, gehst du einfach eine melken, verstehst du?“
„Ja, Jem, aber ich will doch gar nichts über Kühe lernen, ich will …“
„Aber klar, du musst unbedingt über Kühe Bescheid wissen, weil die für Maycomb County sehr wichtig sind.“
Ich begnügte mich damit, Jem zu fragen, ob er verrückt geworden sei.
„Ich versuche dir doch bloß die neue Methode zu erklären, nach der sie die Anfänger unterrichtet, du Dummkopf. Sie heißt ,DeweyDezimalsystem‘.“
Da ich Jems Erläuterungen nie bezweifelte, sah ich keinen Grund, nun damit anzufangen. Das „Dewey-Dezimalsystem“bestand zum Teil darin, dass Miss Caroline vor unseren Augen Karten schwenkte, auf denen „die“, „Katze“, „Ratte“, „Mann“und „du“zu lesen war. Sie schien keinen Kommentar von uns zu erwarten, und die Klasse nahm diese impressionistischen Offenbarungen mit Schweigen auf. Ich langweilte mich und begann, einen Brief an Dill zu schreiben. Dabei ertappte mich Miss Caroline, und sie befahl mir, meinem Vater zu sagen, er solle endlich aufhören, mich zu unterrichten. „Außerdem“, fügte sie hinzu, „schreiben wir in der ersten Klasse keine Schreibschrift, sondern Druckschrift. Schreibschrift lernst du erst in der dritten Klasse.“
Diesmal lag die Schuld bei Calpurnia. Vermutlich hatte sie mich davon abhalten wollen, ihr an Regentagen auf die Nerven zu fallen. Sie kratzte als Schreibaufgabe mit fester Hand das Alphabet auf ein Blatt Papier, und darunter schrieb sie einen Bibelvers. Reproduzierte ich ihre Schreibkunst zur Zufriedenheit, erhielt ich als Belohnung ein mit Zucker bestreutes Butterbrot. Calpurnias Unterricht war frei von Sentimentalitäten: Selten genügte ich ihren Ansprüchen, und selten belohnte sie mich.
Aus meinem neuen Groll gegen Calpurnia rissen mich Miss Carolines Worte: „Hand hoch, wer zum Essen nach Hause geht.“
Die Kinder aus der Stadt meldeten sich, und sie musterte uns der Reihe nach. „Wer sein Essen mitgebracht hat, legt es auf sein Pult.“