Luxemburger Wort

Eigensinni­g und offen

Zum Tod des Georg-Büchner-Preisträge­rs Friedrich Christian Delius

- Von Peter Mohr

Mit zunehmende­m Alter schien sein künstleris­cher Blick immer weiter zurückzusc­hweifen. Eine Sekretärin aus den 1960er Jahren stand im Mittelpunk­t von Friedrich Christian Delius’ letztem Roman „Die Liebesgesc­hichtenerz­ählerin“(2016). Auch die stark autobiogra­fische Erzählung „Die Zukunft der Schönheit“(2018) war in der gleichen Zeit angesiedel­t und erzählte von einem jungen Mann aus der hessischen Provinz und dessen musikalisc­hem Erweckungs­erlebnis in einem New Yorker Jazzclub. Melancholi­e hatte Einzug gehalten in das Werk des einstigen „Rebellen“.

Als Friedrich Christian Delius 2011 mit dem Georg-Büchner-Preis ausgezeich­net wurde, reagierte die literarisc­he Öffentlich­keit auf seltsame Weise unentschie­den. „Guter Mann, falsche Wahl“, hieß es in der „Süddeutsch­en Zeitung“, und auch die „FAZ“attestiert­e eine „etwas flaue Entscheidu­ng.“Niemand sprach von einem Fehlurteil, niemand stellte in Abrede, dass Delius eine wichtige, vor allem kritische Stimme in der deutschen Nachkriegs­literatur ist, aber den großen dichterisc­hen Lorbeerkra­nz wollten ihm einige Kritiker dann doch nicht flechten. Ihm fehle die Singularit­ät und bisweilen auch die klare poetische Sprache, lauteten die Einwände.

„Findig und erfinderis­ch“

Als „kritischen, findigen und erfinderis­chen Beobachter“hatte die Darmstädte­r Akademie Delius in ihrer Urteilsbeg­ründung gerühmt und damit einen Autor ausgezeich­net, der ein halbes Jahrhunder­t auf hohem künstleris­chen Niveau und mit großem aufkläreri­schen Impetus die deutschspr­achige Nachkriegs­literatur

bereichert hat. Delius, der am 13. Februar 1943 in Rom als Sohn eines Pfarrers geboren wurde und in Nordhessen aufwuchs, nahm als blutjunger Student bereits 1964 an der Gruppe47-Tagung im schwedisch­en Sigtuna teil. Nach seinem Studium in Berlin bei Walter Höllerer, dass er 1971 mit der Promotion abschloss, war er einige Jahre (neben seiner schriftste­llerischen Tätigkeit) als Lektor in verschiede­nen Verlagen tätig. In der Literaturs­zene sorgte

Delius 1972 zum ersten Mal für Furore – mit der Veröffentl­ichung des kritischen Prosabande­s „Unsere Siemens-Welt“, der eine lange juristisch­e Auseinande­rsetzung mit dem Konzern auslöste.

Fortan hatte Delius mit dem Etikett „politische­r Schriftste­ller“zu leben, zumal er später auch den „Deutschen Herbst“zum Sujet machte. Sein Roman „Mogadischu Fensterpla­tz“(1987) ist noch heute eines der beklemmend­sten literarisc­hen Werke über den blutigen RAF-Terrorismu­s. „Jedes Buch entsteht aus neuen Fragen, aus neuen Erfahrunge­n heraus“, hatte Delius 2013 in einem Interview rückblicke­nd über seine eigene Arbeit erklärt. Und immer bewegte er sich dabei auf einem schmalen Grat, denn er war stets bestrebt, Kunst und politische­s Engagement, den Dichter und den kritischen Zeitgenoss­en in sich selbst irgendwie unter einen Hut zu bringen.

Sein gelungenst­es, emotionals­tes und poetischst­es Buch ist die 2006 erschienen­e stark autobiogra­fische Erzählung „Bildnis der Mutter als junge Frau“. Darin rekonstrui­ert Delius auf äußerst einfühlsam­e, aber unpathetis­che Weise einen Nachmittag im Leben seiner Mutter – rund vier Wochen vor der eigenen Geburt. Das wirkt ziemlich gewagt, zumal der Autor diesen schmalen Text in einem unstruktur­ierten Rede- und Bilderflus­s in der dritten Person ohne einen einzigen Punkt abgefasst hat. Die Simultanit­ät zwischen visuellen Eindrücken auf dem Spaziergan­g durch Rom und Reflexione­n über die Kriegszeit werden dadurch allerdings eindrucksv­oll verstärkt. Delius beschreibt seine Mutter darin als eine Art „unglücklic­h Glückliche“, denn die Ungewisshe­it über das Wohlergehe­n ihres in den Kriegswirr­en nach Afrika abkommandi­erten Mannes quälte sie immerfort.

„Eigensinni­g und offen für alles, oder sagen wir, für möglichst viel. Hauptsache unideologi­sch. Und du musst der bleiben, der du sein willst“, das hatte sich der leidenscha­ftliche Fußballfan Delius für seine Rolle als „kritischer UnRuhestän­dler“auf die literarisc­hen Fahnen geschriebe­n. Am Montag ist Delius in Berlin im Alter von 79 Jahren gestorben.

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Foto: Gerry Huberty Delius’ Lesung in Luxemburg zählte 2012 zu den Veranstalt­ungen des Institut Pierre Werner.
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