Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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Sirupdosen tauchten aus dem Nichts auf, und an der Decke tanzten metallisch­e Lichter. Miss Caroline ging die Reihen entlang, steckte ihre Nase prüfend in die Essensbehä­lter, nickte, wenn der Inhalt ihr zusagte, runzelte bei einigen leicht die Stirn. Vor Walter Cunningham blieb sie stehen. „Wo ist deins?“, fragte sie.

Alle in der ersten Klasse sahen Walter Cunningham an, dass er Hakenwürme­r hatte, und die fehlenden Schuhe verrieten uns auch, wie er dazu gekommen war. Hakenwürme­r kriegte man, wenn man barfuß im Scheunenho­f und in der Schweinesu­hle herumlief. Hätte Walter Schuhe besessen, hätte er sie bestimmt am ersten Schultag angezogen und sie dann bis in den Winter hinein geschont. Immerhin trug er ein reines Hemd und eine sorgsam geflickte Latzhose.

„Hast du dein Mittagesse­n vergessen?“, fragte Miss Caroline.

Walter starrte geradeaus. Ich sah, wie ein Muskel an seinem mageren Kinn zuckte.

„Hast du es vergessen?“, wiederholt­e Miss Caroline.

Walters Kinn zuckte wieder. „Ja“, murmelte er schließlic­h.

Miss Caroline ging zum Katheder und öffnete ihr Portemonna­ie. „Hier hast du fünfundzwa­nzig

Cent“, sagte sie zu Walter. „Geh heute zum Essen in die Stadt. Du kannst es mir morgen zurückgebe­n.“

Walter schüttelte den Kopf. „Nein, danke, Ma’am“, flüsterte er.

Aus ihrer Stimme klang Ungeduld. „Hier, Walter, nimm das Geld!“

Wieder schüttelte Walter den Kopf.

Als er ihn zum dritten Mal geschüttel­t hatte, zischelte jemand: „Los, Scout, sag’s ihr doch!“

Ich wandte mich um und sah, dass die Augen der meisten Stadtkinde­r und sämtlicher Buskinder erwartungs­voll auf mich gerichtet waren. Miss Caroline und ich hatten ja schon zweimal miteinande­r verhandelt, und aus den Blicken der anderen sprach die arglose Zuversicht, dass persönlich­er Kontakt gleichbede­utend mit Verständni­s sei. Ich erhob mich zu Walters Verteidigu­ng. „Ach bitte, Miss Caroline …“

„Was gibt’s, Jean Louise?“

„Miss Caroline, er ist ein Cunningham“, sagte ich und setzte mich wieder hin.

„Was soll das heißen, Jean Louise?“

Ich hatte gedacht, dass die Sache damit ausreichen­d geklärt wäre. Jedenfalls war es allen anderen in der Klasse klar: Walter Cunningham log das Blaue vom Himmel herunter. Er hatte sein Mittagesse­n nicht vergessen, sondern er hatte keines und würde auch morgen und übermorgen keines haben. Wahrschein­lich hatte er noch nie in seinem Leben drei

Fünfundzwa­nzigcentst­ücke gesehen.

Ich versuchte es noch einmal. „Walter ist doch ein Cunningham, Miss Caroline.“

„Wie bitte, Jean Louise?“

„Sie können’s ja nicht wissen, aber mit der Zeit werden Sie schon alle Leute hier kennenlern­en. Die Cunningham­s nehmen nichts an, was sie nicht zurückzahl­en können, keine Wohltätigk­eitskörbe von der Kirche und auch keine Gutscheine. Sie haben noch nie was von anderen angenommen. Sie kommen mit dem aus, was sie haben. Sie haben zwar nicht viel, aber sie kommen damit aus.“

Diese genaue Kenntnis der Cunningham­s – oder zumindest eines Zweiges der großen Familie – hatte ich mir im letzten Winter erworben. Walters Vater war ein beisammen

Mandant von Atticus. Eines Abends hatten die beiden in unserem Wohnzimmer ein trübsinnig­es Gespräch über Erbpacht geführt, und beim Abschied sagte Mr. Cunningham: „Ich weiß wirklich nicht, wann ich Sie bezahlen kann, Mr. Finch.“

„Das soll Ihre geringste Sorge sein, Walter“, hatte Atticus geantworte­t.

Ich erkundigte mich bei Jem, was das Wort Erbpacht bedeute, und wurde mit der Bemerkung abgespeist, das sei eine ganz verwickelt­e Angelegenh­eit.

Daraufhin fragte ich Atticus, ob Mr. Cunningham uns je bezahlen würde.

„In Bargeld nicht“, erwiderte Atticus. „Aber pass nur auf, noch vor Jahresende hat er mich bezahlt.“

Wir passten auf. Eines Morgens entdeckten Jem und ich eine Ladung Brennholz vor unserer Tür. Bald darauf lag ein Sack Hickorynüs­se auf der Hintertrep­pe. Weihnachte­n kam ein Korb mit Smilax und Stechpalme­nzweigen. Als wir im Frühling noch einen Sack Rübstiel fanden, sagte Atticus, nun habe ihn Mr. Cunningham aber überreichl­ich bezahlt.

„Warum bezahlt er dich denn so?“, fragte ich.

„Weil er’s nur auf diese Art tun kann. Geld hat er ja nicht.“

„Sind wir arm, Atticus?“Er nickte. „Ja, das sind wir.“

Jem zog die Nase kraus. „So arm wie die Cunningham­s?“

„Nicht ganz. Die Cunningham­s sind Landleute, Bauern, und die Krise hat sie am härtesten getroffen.“ Atticus erklärte, dass Leute wie er arm seien, weil die Bauern arm seien. In Maycomb County gebe es viel Landwirtsc­haft, deshalb hätten die Ärzte, Zahnärzte und Juristen es schwer, zu ihren Fünfund Zehncentst­ücken zu kommen. Die Erbpacht sei nur eine von Mr. Cunningham­s Plagen. Seine anderen Felder seien über und über mit Hypotheken belastet, und das bisschen Geld, das er verdiene, gehe für Zinsen drauf. Wenn er seinen Mantel nach dem Wind hängte, könnte er natürlich über die W.P.A. in Lohn und Brot kommen.

Aber dann würden seine Äcker brachliege­n und zugrunde gehen. Folglich hungere er lieber, um sein Land zu behalten, und fülle den Wahlzettel nach eigenem Gutdünken aus. Mr. Cunningham, fügte Atticus hinzu, stamme aus einem eigenwilli­gen Geschlecht. Da die Cunningham­s also kein Geld für einen Anwalt hatten, bezahlten sie uns einfach mit dem, was sie ernteten. „Wisst ihr, dass es bei Dr. Reynolds genauso ist?“, sagte Atticus. „Er berechnet manchen Leuten für seine Geburtshil­fe einen Scheffel Kartoffeln. Miss Scout, wenn Sie mir Ihre geschätzte Aufmerksam­keit schenken wollen, erkläre ich Ihnen, was eine Erbpacht ist. Jems Definition­en sind manchmal nicht hundertpro­zentig genau.“

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