Wer die Nachtigall stört
8
Sirupdosen tauchten aus dem Nichts auf, und an der Decke tanzten metallische Lichter. Miss Caroline ging die Reihen entlang, steckte ihre Nase prüfend in die Essensbehälter, nickte, wenn der Inhalt ihr zusagte, runzelte bei einigen leicht die Stirn. Vor Walter Cunningham blieb sie stehen. „Wo ist deins?“, fragte sie.
Alle in der ersten Klasse sahen Walter Cunningham an, dass er Hakenwürmer hatte, und die fehlenden Schuhe verrieten uns auch, wie er dazu gekommen war. Hakenwürmer kriegte man, wenn man barfuß im Scheunenhof und in der Schweinesuhle herumlief. Hätte Walter Schuhe besessen, hätte er sie bestimmt am ersten Schultag angezogen und sie dann bis in den Winter hinein geschont. Immerhin trug er ein reines Hemd und eine sorgsam geflickte Latzhose.
„Hast du dein Mittagessen vergessen?“, fragte Miss Caroline.
Walter starrte geradeaus. Ich sah, wie ein Muskel an seinem mageren Kinn zuckte.
„Hast du es vergessen?“, wiederholte Miss Caroline.
Walters Kinn zuckte wieder. „Ja“, murmelte er schließlich.
Miss Caroline ging zum Katheder und öffnete ihr Portemonnaie. „Hier hast du fünfundzwanzig
Cent“, sagte sie zu Walter. „Geh heute zum Essen in die Stadt. Du kannst es mir morgen zurückgeben.“
Walter schüttelte den Kopf. „Nein, danke, Ma’am“, flüsterte er.
Aus ihrer Stimme klang Ungeduld. „Hier, Walter, nimm das Geld!“
Wieder schüttelte Walter den Kopf.
Als er ihn zum dritten Mal geschüttelt hatte, zischelte jemand: „Los, Scout, sag’s ihr doch!“
Ich wandte mich um und sah, dass die Augen der meisten Stadtkinder und sämtlicher Buskinder erwartungsvoll auf mich gerichtet waren. Miss Caroline und ich hatten ja schon zweimal miteinander verhandelt, und aus den Blicken der anderen sprach die arglose Zuversicht, dass persönlicher Kontakt gleichbedeutend mit Verständnis sei. Ich erhob mich zu Walters Verteidigung. „Ach bitte, Miss Caroline …“
„Was gibt’s, Jean Louise?“
„Miss Caroline, er ist ein Cunningham“, sagte ich und setzte mich wieder hin.
„Was soll das heißen, Jean Louise?“
Ich hatte gedacht, dass die Sache damit ausreichend geklärt wäre. Jedenfalls war es allen anderen in der Klasse klar: Walter Cunningham log das Blaue vom Himmel herunter. Er hatte sein Mittagessen nicht vergessen, sondern er hatte keines und würde auch morgen und übermorgen keines haben. Wahrscheinlich hatte er noch nie in seinem Leben drei
Fünfundzwanzigcentstücke gesehen.
Ich versuchte es noch einmal. „Walter ist doch ein Cunningham, Miss Caroline.“
„Wie bitte, Jean Louise?“
„Sie können’s ja nicht wissen, aber mit der Zeit werden Sie schon alle Leute hier kennenlernen. Die Cunninghams nehmen nichts an, was sie nicht zurückzahlen können, keine Wohltätigkeitskörbe von der Kirche und auch keine Gutscheine. Sie haben noch nie was von anderen angenommen. Sie kommen mit dem aus, was sie haben. Sie haben zwar nicht viel, aber sie kommen damit aus.“
Diese genaue Kenntnis der Cunninghams – oder zumindest eines Zweiges der großen Familie – hatte ich mir im letzten Winter erworben. Walters Vater war ein beisammen
Mandant von Atticus. Eines Abends hatten die beiden in unserem Wohnzimmer ein trübsinniges Gespräch über Erbpacht geführt, und beim Abschied sagte Mr. Cunningham: „Ich weiß wirklich nicht, wann ich Sie bezahlen kann, Mr. Finch.“
„Das soll Ihre geringste Sorge sein, Walter“, hatte Atticus geantwortet.
Ich erkundigte mich bei Jem, was das Wort Erbpacht bedeute, und wurde mit der Bemerkung abgespeist, das sei eine ganz verwickelte Angelegenheit.
Daraufhin fragte ich Atticus, ob Mr. Cunningham uns je bezahlen würde.
„In Bargeld nicht“, erwiderte Atticus. „Aber pass nur auf, noch vor Jahresende hat er mich bezahlt.“
Wir passten auf. Eines Morgens entdeckten Jem und ich eine Ladung Brennholz vor unserer Tür. Bald darauf lag ein Sack Hickorynüsse auf der Hintertreppe. Weihnachten kam ein Korb mit Smilax und Stechpalmenzweigen. Als wir im Frühling noch einen Sack Rübstiel fanden, sagte Atticus, nun habe ihn Mr. Cunningham aber überreichlich bezahlt.
„Warum bezahlt er dich denn so?“, fragte ich.
„Weil er’s nur auf diese Art tun kann. Geld hat er ja nicht.“
„Sind wir arm, Atticus?“Er nickte. „Ja, das sind wir.“
Jem zog die Nase kraus. „So arm wie die Cunninghams?“
„Nicht ganz. Die Cunninghams sind Landleute, Bauern, und die Krise hat sie am härtesten getroffen.“ Atticus erklärte, dass Leute wie er arm seien, weil die Bauern arm seien. In Maycomb County gebe es viel Landwirtschaft, deshalb hätten die Ärzte, Zahnärzte und Juristen es schwer, zu ihren Fünfund Zehncentstücken zu kommen. Die Erbpacht sei nur eine von Mr. Cunninghams Plagen. Seine anderen Felder seien über und über mit Hypotheken belastet, und das bisschen Geld, das er verdiene, gehe für Zinsen drauf. Wenn er seinen Mantel nach dem Wind hängte, könnte er natürlich über die W.P.A. in Lohn und Brot kommen.
Aber dann würden seine Äcker brachliegen und zugrunde gehen. Folglich hungere er lieber, um sein Land zu behalten, und fülle den Wahlzettel nach eigenem Gutdünken aus. Mr. Cunningham, fügte Atticus hinzu, stamme aus einem eigenwilligen Geschlecht. Da die Cunninghams also kein Geld für einen Anwalt hatten, bezahlten sie uns einfach mit dem, was sie ernteten. „Wisst ihr, dass es bei Dr. Reynolds genauso ist?“, sagte Atticus. „Er berechnet manchen Leuten für seine Geburtshilfe einen Scheffel Kartoffeln. Miss Scout, wenn Sie mir Ihre geschätzte Aufmerksamkeit schenken wollen, erkläre ich Ihnen, was eine Erbpacht ist. Jems Definitionen sind manchmal nicht hundertprozentig genau.“