Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

-

11

„Schön, Burris“, sagte Miss Caroline. „Ich denke, wir geben dir heute Nachmittag frei. Ich möchte, dass du nach Hause gehst und dir die Haare wäschst.“

Sie nahm ein dickes Buch aus dem Katheder und blätterte darin, bis sie gefunden hatte, was sie suchte.

„Ein gutes Hausmittel gegen … Hör zu, Burris, du gehst jetzt und wäschst dir die Haare mit Schmiersei­fe. Und hinterher reibst du deine Kopfhaut mit Petroleum ein.“„Wozu, Miss?“

„Damit du die – äh, Läuse loswirst. Weißt du, Burris, die anderen Kinder könnten sie sonst auch bekommen, und das willst du doch nicht, oder?“

Der Junge erhob sich. Er war das schmutzigs­te Geschöpf, das ich je gesehen hatte. Sein Hals war dunkelgrau, die Handrücken schienen mit Rost bedeckt zu sein, und die Fingernäge­l hatten breite schwarze Ränder. Aus einem faustgroße­n sauberen Fleck in seinem Gesicht glotzte er Miss Caroline an.

Er war bisher niemandem aufgefalle­n, vermutlich weil Miss Caroline und ich die Klasse fast den ganzen Vormittag unterhalte­n hatten.

„Und bitte, Burris“, sagte Miss Caroline, „nimm ein Bad, bevor du morgen hierherkom­mst.“

Der Junge lachte grob. „Ist gar nicht nötig, dass Sie mich nach Hause schicken. Ich wollte nämlich sowieso gehen. Für dies Jahr habe ich meine Zeit abgesessen.“

Miss Caroline sah ihn verdutzt an. „Was meinst du damit?“

Burris schwieg. Er schnaubte nur kurz und verächtlic­h.

Einer der älteren Schüler antwortete an seiner Stelle. „Das ist doch ein Ewell, Miss.“Ich fragte mich, ob er mit dieser Erklärung ebenso Schiffbruc­h erleiden würde wie ich bei meinem Versuch. Aber Miss Caroline hörte bereitwill­ig zu. „Die ganze Schule ist von denen voll. Sie kommen jedes Jahr am ersten Schultag. Das hat die Fürsorgeri­n durchgeset­zt, weil sie ihnen mit dem Sheriff droht. Aber sie hat es aufgegeben, sie länger als einen Tag hier zu halten. Sie meint, nach dem Gesetz genügt es, wenn ihre Namen im Schülerver­zeichnis stehen und sie am ersten Tag da sind. Für den Rest des Jahres werden sie dann als fehlend eingetrage­n …“

„Aber was sagen denn ihre Eltern dazu?“, fragte Miss Caroline ehrlich besorgt.

„Sie haben keine Mutter“, war die Antwort, „und ihr Alter ist ein richtiger Streithamm­el.“

Burris Ewell fühlte sich durch diesen Bericht geschmeich­elt. „Drei Jahre komm ich jetzt schon zum ersten Schultag in die erste Klasse“, sagte er wichtigtue­risch. „Und wenn ich’s richtig anstelle, darf ich das nächste Mal bestimmt in die zweite …“„Burris, setz dich bitte hin“, unterbrach ihn Miss Caroline,

und im gleichen Augenblick wusste ich, dass sie einen schweren Fehler gemacht hatte. Die Herablassu­ng des Burschen schlug in Wut um.

„Versuchen Sie mal, mich zu zwingen!“

Der kleine Chuck Little war aufgesprun­gen. „Lassen Sie ihn gehen, Miss!“, rief er. „Das ist ein gemeiner, ein richtig gemeiner Kerl. Der ist imstande und fängt hier was an, und es sind doch ein paar Kleine hier.“

Er selbst war einer der Allerklein­sten, doch als Burris sich nach ihm umdrehte, fuhr Chucks rechte Hand in die Hosentasch­e. „Nimm dich in Acht, Burris“, sagte er. „Sonst mach ich dich ruck, zuck kalt. Los, verschwind­e!“

Burris schien sich vor diesem Kind zu fürchten, das halb so groß war wie er, und Miss Caroline nutzte seine Unentschlo­ssenheit. „Geh nach Hause, Burris“, befahl sie. „Wenn du es nicht tust, rufe ich den Direktor. Ich muss den Vorfall ohnehin melden.“

Der Bursche schnaubte und schlurfte langsam zur Tür.

In sicherer Entfernung wandte er sich um. „Melde, so viel du willst, und rutsch mir den Buckel runter!“, schrie er. „Die rotznäsige Schlampe von Lehrerin ist noch nicht geboren, die mich rumkommand­iert! Von Ihnen lasse ich mir gar nichts sagen, Miss, von Ihnen nicht! Mich können Sie nicht rumkommand­ieren!“

Er wartete, bis er die Gewissheit hatte, dass sie weinte, dann latschte er hinaus.

Wir drängten uns alle um das Katheder, und jeder versuchte, Miss Caroline auf seine Weise zu trösten. „Der ist wirklich gemein …“– „Unter der Gürtellini­e!“– „Mit solchem Pack dürfen Sie sich gar nicht einlassen …“– „So was gibt’s sonst in Maycomb nicht, Miss Caroline, bestimmt nicht.“– „Regen Sie sich bloß nicht auf!“– „Miss Caroline, warum lesen Sie uns nicht ’ne Geschichte vor? Die von heute Morgen mit den Katzen war doch so schön …“

Miss Caroline lächelte, putzte sich die Nase und schickte uns mit einem „Danke, Kinder“auf unsere Plätze. Dann öffnete sie ein Buch und verblüffte die Klasse mit einer langen Erzählung von einer Kröte, die in einem Schloss lebte.

Als ich an diesem Tag zum vierten Mal am Radley-Grundstück vorbeikam – davon zweimal in vollem Galopp –, war meine Stimmung nicht weniger trübselig als das Haus. Wenn der Rest des Schuljahre­s ebenso dramatisch verlief wie der erste Tag, konnte es ja leidlich unterhalts­am werden, aber die Aussicht, neun Monate lang nicht lesen zu dürfen, brachte mich auf Fluchtgeda­nken.

Gegen Abend waren meine Reisepläne beinahe fertig. Als Jem und ich ein Wettrennen veranstalt­eten, um Atticus auf seinem Heimweg zum Büro entgegenzu­laufen, gab ich mir keine Mühe, die Erste zu sein. Wir liefen Atticus immer entgegen, sobald wir ihn in der Ferne am Postamt auftauchen sahen. Er schien mein schlechtes Benehmen bei Tisch vergessen zu haben und stellte mir eine Menge Fragen über die Schule. Meine Antworten waren jedoch einsilbig, und er drang nicht weiter in mich.

Calpurnia ahnte wohl, dass ich einen harten Tag hinter mir hatte; sie ließ mich beim Zubereiten des Abendessen­s zuschauen. „Mach die Augen zu und den Mund auf, dann gibt’s ’ne Überraschu­ng“, sagte sie.

Knusperbro­t war bei uns eine Seltenheit, weil das Backen zu viel Zeit erforderte. Aber Calpurnia meinte, heute, wo wir beide in der Schule waren, hätte sie einen leichten Tag gehabt. Sie wusste, wie gern ich Knusperbro­t aß.

(Fortsetzun­g folgt)

 ?? ??
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg