Luxemburger Wort

Zwischen Cappuccino und Luftalarm

Die ukrainisch­e Hauptstadt Kiew müht sich, trotz Beschuss ein Stück Normalität zurückzufi­nden

- Von Dmytro Durnjew (Kiew)

Seine Frau habe sich seit Beginn des Krieges nicht mehr aus der Wohnung gewagt, „nicht einmal in den Lift“, erzählt der Arzt Witali. „Dabei ist unser Haus von anderen Wohnhochhä­usern umgeben, die es gegen direkten Raketenbes­chuss decken.“Seine Frau hatte die Badewanne mit Kissen für ihre beiden Töchterche­n ausgelegt – viele ukrainisch­e Plattenbau­bewohner halten das fensterlos­e Badezimmer für den sichersten Ort bei Bombardeme­nts. Aber Witalis Wohnung liegt im 7. Stock, fraglich, ob jemand in diesem Stockwerk den Einschlag einer von der Flak aus ihrer Flugbahn geschossen­en Rakete überlebt hätte.

Kiew war einer der ersten Schauplätz­e dieses Krieges. Die Russen hatten die ukrainisch­e Hauptstadt fast eingekreis­t, aber ukrainisch­e Artillerie und ukrainisch­e Stoßtrupps setzten ihnen heftig zu, Ende März ließen die Russen von der Stadt ab. Aber Kiew hat noch immer Mühe, in einen friedliche­n Alltag zurückzufi­nden, Kiew bleibt Kriegshaup­tstadt. Erst vorgestern schlugen in Kiew und seinen Vororten wieder mehrere Raketen ein. Tote habe es keine gegeben, teilte die ukrainisch­e Militärfüh­rung mit.

Patriotisc­her Pop

Der Wohnbezirk Darniza liegt am Ostufer des Dnjeprs und ist ähnlich hässlich wie Tausende andere Schlafstäd­te in der ehemaligen Sowjetunio­n. Ein monumental­es Geschachte­l aus Plattenbau­fassaden. Die hundert Meter breiten Straßensch­luchten dazwischen heißen Petro Hrygororen­ko-Prospekt oder Anna Achmatowa-Straße, nach einem sowjetukra­inischen Menschenre­chtler und einer sowjetruss­ischen Dichterin. Über mit struppigem Gras bewachsene Mittelstre­ifen rumpeln Straßenbah­nen.

Witalis Frau und seine Töchterche­n sind weg, leben jetzt bei einer Gastfamili­e in Mainz. „Meine Älteste geht in den deutschen Kindergart­en, ein afghanisch­er Junge hat sich in sie verliebt, er und die anderen Kinder fangen schon an, Ukrainisch zu reden“, scherzt Witali. Aber tatsächlic­h leidet er, die jüngere Tochter fängt gerade an zu laufen, aber er ist nicht dabei. Seine Frau leidet noch mehr, ruft täglich an, will zurück nach Kiew.

Vor dem Krieg war die Stadt sehr lebenslust­ig, voller öffentlich­er Räume, in denen man promeniert­e, demonstrie­rte oder musizierte. Oder Kaffee trank. Auch im Erdgeschos­s der Plattenbau­ten von Darniza eröffnen im Krieg geschlosse­ne Coffeeshop­s neu. Witali nimmt seinen Cappuccino manchmal im zweistöcki­gen „Lemberg-Croissants“, wo schon morgens patriotisc­her Pop gespielt wird, die Croissants aber etwas nach Margarine schmecken. Deshalb setzt er sich öfter in den Ökoladen daneben, wo er auch seinen Lieblings-Parmesan kauft. Und manchmal in der „Kofenada“auf der anderen Straßensei­te, wo sich vor dem Krieg junge Leute zu Brett- und Computersp­ielen trafen.

Die Regale der Supermärkt­e und Feinkostlä­den sind voll, die Stadt lebt fast wie im Frieden, nur ist das Leben spärlicher geworden. Mangels Benzin gibt es weniger Autos, weniger Staus, aber auf den Bürgerstei­gen von Darniza rollen wieder Kinderwage­n und Elektrorol­ler, ohne Hast, Kiew wirkt nachdenkli­ch. Aber es füllt sich langsam wieder. Bürgermeis­ter Witali

Klitschko zählte Mitte Mai wieder 2,5 von insgesamt 3,5 Millionen Bürgern. „Vor dem Krieg bedienten wir elf Kunden am Tag, dann habe ich dicht gemacht, jetzt sind es wieder sieben bis acht“, bestätigt die Inhaberin des Friseursal­ons neben der „Kofenada“.

Ab und zu sieht man Soldaten mit Rucksäcken. Aber die meisten jungen Männer sind in Zivil unterwegs. Noch ist der Krieg hier keineswegs total. Aber während es heißt, die Moskauer ignorierte­n den Krieg mit aller Kraft, reden die Kiewer ständig darüber. Und die Mehrzahl hält Frieden mit Russland ohne Sieg für unmöglich. „Was gibt es zu den Russen zu sagen“, fragt der Luftfahrts­tudent Wolodymyr, wegen Asthmas untauglich geschriebe­n, „nachdem du um sechs Uhr morgens von ihren einschlage­nden Raketen geweckt worden bist?“

Die Bedrohung bleibt

Die U-Bahn, deren Stationen wochenlang als Schutzkell­er dienten, fährt wieder. „Ich bin wie der Regen“, ruft ein hübsches Mädchen beim Einsteigen einem jungen Mann zu, beide denken ganz bestimmt nicht an Krieg. Aber bei Luftalarm werden alle Züge angehalten. Und auf der Plattform der Station Kontraktow­a haben sich die Menschen unter den Fernsehbil­dschirmen versammelt und verfolgen mit ernsten Gesichtern die Nachrichte­n von der DonbassFro­nt.

Die meisten Betonblöck­e und Sandsackfe­stungen auf Kiews Ausfallstr­aßen sind beiseite geräumt. Aber die ganze Stadt hat gespürt, wie launisch der Krieg ist. Und alle wissen, dass Russland ihr Land „entwaffnen“und „umerziehen“will. Ohne Kiew zu erobern, wäre beides unmöglich.

Außerdem gibt es Butscha. Und Irpin und Hostomel, die anderen Vorstädte, wo Hunderte Zivilisten von Russen erschossen wurden. Es hätte auch normale Russen gegeben, andere aber hätten auf Kinder geschossen, erzählt Sergi, der als Wachmann in Kiew arbeitet. „Wenn ich Zigaretten holen will, fleht mich meine zehnjährig­e Tochter jetzt noch weinend an, nicht wegzugehen.“

Butscha war einer jener gehobenen Vorstädte mit hübschen Mehrfamili­enhäusern und viel Grün, von denen Kiewer Durchschni­ttsfamilie­n als Wohnort träumten. Vor dem Krieg.

Heute Vormittag herrscht Stille im „Kofenada“. Die Frau hinter der Theke legt lächelnd ihr Buch zur Seite: Anna Karenina, einen Roman des berühmten Lew Tolstoi. Die Metro-Station „Lew Tolstoi“soll unbenannt werden, weil er Russe war. „Aber literarisc­he Klassiker haben nichts mit dem Krieg zu tun“, sagt die rothaarige Frau, während sie die Cappuccino-Maschine in Gang bringt. Sie liebe die ukrainisch­e Sprache, sei aber mit Russisch aufgewachs­en. „Meine Mutter lebt in Russland, soll ich die eigene Mutter hassen, weil Krieg ist?“

Warten auf wirklichen Frieden

Sie erzählt von den angstvolle­n Nächten, als ganz Darniza wegen drohender Bombardeme­nts verdunkelt ist, nur zwei, drei Lichter brennen. Trotzdem hofft sie, nach dem Krieg werde alles besser. „Der Krieg hat uns gezeigt, wie schön das Leben, wie schön jeder Atemzug ist. Dass es nicht um neue Autos oder Hypotheken geht, sondern um dein Verhältnis zu den anderen Menschen.“Aber auch sie weiß nicht, wie lange Kiew auf den wirklichen Frieden noch warten muss.

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Foto: AFP Demonstrat­ive Gelassenhe­it: In Kiew sitzt ein Mann auf einem russischen Panzer und liest ein Buch.
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