Zwischen Cappuccino und Luftalarm
Die ukrainische Hauptstadt Kiew müht sich, trotz Beschuss ein Stück Normalität zurückzufinden
Seine Frau habe sich seit Beginn des Krieges nicht mehr aus der Wohnung gewagt, „nicht einmal in den Lift“, erzählt der Arzt Witali. „Dabei ist unser Haus von anderen Wohnhochhäusern umgeben, die es gegen direkten Raketenbeschuss decken.“Seine Frau hatte die Badewanne mit Kissen für ihre beiden Töchterchen ausgelegt – viele ukrainische Plattenbaubewohner halten das fensterlose Badezimmer für den sichersten Ort bei Bombardements. Aber Witalis Wohnung liegt im 7. Stock, fraglich, ob jemand in diesem Stockwerk den Einschlag einer von der Flak aus ihrer Flugbahn geschossenen Rakete überlebt hätte.
Kiew war einer der ersten Schauplätze dieses Krieges. Die Russen hatten die ukrainische Hauptstadt fast eingekreist, aber ukrainische Artillerie und ukrainische Stoßtrupps setzten ihnen heftig zu, Ende März ließen die Russen von der Stadt ab. Aber Kiew hat noch immer Mühe, in einen friedlichen Alltag zurückzufinden, Kiew bleibt Kriegshauptstadt. Erst vorgestern schlugen in Kiew und seinen Vororten wieder mehrere Raketen ein. Tote habe es keine gegeben, teilte die ukrainische Militärführung mit.
Patriotischer Pop
Der Wohnbezirk Darniza liegt am Ostufer des Dnjeprs und ist ähnlich hässlich wie Tausende andere Schlafstädte in der ehemaligen Sowjetunion. Ein monumentales Geschachtel aus Plattenbaufassaden. Die hundert Meter breiten Straßenschluchten dazwischen heißen Petro Hrygororenko-Prospekt oder Anna Achmatowa-Straße, nach einem sowjetukrainischen Menschenrechtler und einer sowjetrussischen Dichterin. Über mit struppigem Gras bewachsene Mittelstreifen rumpeln Straßenbahnen.
Witalis Frau und seine Töchterchen sind weg, leben jetzt bei einer Gastfamilie in Mainz. „Meine Älteste geht in den deutschen Kindergarten, ein afghanischer Junge hat sich in sie verliebt, er und die anderen Kinder fangen schon an, Ukrainisch zu reden“, scherzt Witali. Aber tatsächlich leidet er, die jüngere Tochter fängt gerade an zu laufen, aber er ist nicht dabei. Seine Frau leidet noch mehr, ruft täglich an, will zurück nach Kiew.
Vor dem Krieg war die Stadt sehr lebenslustig, voller öffentlicher Räume, in denen man promenierte, demonstrierte oder musizierte. Oder Kaffee trank. Auch im Erdgeschoss der Plattenbauten von Darniza eröffnen im Krieg geschlossene Coffeeshops neu. Witali nimmt seinen Cappuccino manchmal im zweistöckigen „Lemberg-Croissants“, wo schon morgens patriotischer Pop gespielt wird, die Croissants aber etwas nach Margarine schmecken. Deshalb setzt er sich öfter in den Ökoladen daneben, wo er auch seinen Lieblings-Parmesan kauft. Und manchmal in der „Kofenada“auf der anderen Straßenseite, wo sich vor dem Krieg junge Leute zu Brett- und Computerspielen trafen.
Die Regale der Supermärkte und Feinkostläden sind voll, die Stadt lebt fast wie im Frieden, nur ist das Leben spärlicher geworden. Mangels Benzin gibt es weniger Autos, weniger Staus, aber auf den Bürgersteigen von Darniza rollen wieder Kinderwagen und Elektroroller, ohne Hast, Kiew wirkt nachdenklich. Aber es füllt sich langsam wieder. Bürgermeister Witali
Klitschko zählte Mitte Mai wieder 2,5 von insgesamt 3,5 Millionen Bürgern. „Vor dem Krieg bedienten wir elf Kunden am Tag, dann habe ich dicht gemacht, jetzt sind es wieder sieben bis acht“, bestätigt die Inhaberin des Friseursalons neben der „Kofenada“.
Ab und zu sieht man Soldaten mit Rucksäcken. Aber die meisten jungen Männer sind in Zivil unterwegs. Noch ist der Krieg hier keineswegs total. Aber während es heißt, die Moskauer ignorierten den Krieg mit aller Kraft, reden die Kiewer ständig darüber. Und die Mehrzahl hält Frieden mit Russland ohne Sieg für unmöglich. „Was gibt es zu den Russen zu sagen“, fragt der Luftfahrtstudent Wolodymyr, wegen Asthmas untauglich geschrieben, „nachdem du um sechs Uhr morgens von ihren einschlagenden Raketen geweckt worden bist?“
Die Bedrohung bleibt
Die U-Bahn, deren Stationen wochenlang als Schutzkeller dienten, fährt wieder. „Ich bin wie der Regen“, ruft ein hübsches Mädchen beim Einsteigen einem jungen Mann zu, beide denken ganz bestimmt nicht an Krieg. Aber bei Luftalarm werden alle Züge angehalten. Und auf der Plattform der Station Kontraktowa haben sich die Menschen unter den Fernsehbildschirmen versammelt und verfolgen mit ernsten Gesichtern die Nachrichten von der DonbassFront.
Die meisten Betonblöcke und Sandsackfestungen auf Kiews Ausfallstraßen sind beiseite geräumt. Aber die ganze Stadt hat gespürt, wie launisch der Krieg ist. Und alle wissen, dass Russland ihr Land „entwaffnen“und „umerziehen“will. Ohne Kiew zu erobern, wäre beides unmöglich.
Außerdem gibt es Butscha. Und Irpin und Hostomel, die anderen Vorstädte, wo Hunderte Zivilisten von Russen erschossen wurden. Es hätte auch normale Russen gegeben, andere aber hätten auf Kinder geschossen, erzählt Sergi, der als Wachmann in Kiew arbeitet. „Wenn ich Zigaretten holen will, fleht mich meine zehnjährige Tochter jetzt noch weinend an, nicht wegzugehen.“
Butscha war einer jener gehobenen Vorstädte mit hübschen Mehrfamilienhäusern und viel Grün, von denen Kiewer Durchschnittsfamilien als Wohnort träumten. Vor dem Krieg.
Heute Vormittag herrscht Stille im „Kofenada“. Die Frau hinter der Theke legt lächelnd ihr Buch zur Seite: Anna Karenina, einen Roman des berühmten Lew Tolstoi. Die Metro-Station „Lew Tolstoi“soll unbenannt werden, weil er Russe war. „Aber literarische Klassiker haben nichts mit dem Krieg zu tun“, sagt die rothaarige Frau, während sie die Cappuccino-Maschine in Gang bringt. Sie liebe die ukrainische Sprache, sei aber mit Russisch aufgewachsen. „Meine Mutter lebt in Russland, soll ich die eigene Mutter hassen, weil Krieg ist?“
Warten auf wirklichen Frieden
Sie erzählt von den angstvollen Nächten, als ganz Darniza wegen drohender Bombardements verdunkelt ist, nur zwei, drei Lichter brennen. Trotzdem hofft sie, nach dem Krieg werde alles besser. „Der Krieg hat uns gezeigt, wie schön das Leben, wie schön jeder Atemzug ist. Dass es nicht um neue Autos oder Hypotheken geht, sondern um dein Verhältnis zu den anderen Menschen.“Aber auch sie weiß nicht, wie lange Kiew auf den wirklichen Frieden noch warten muss.