Eine Hymne auf das Lesen
Mit Büchern durch Raum und Zeit
Es sind seltsame Gruppen bewaffneter Männer, die die unwirtlichen Straßen des bäuerlichen Griechenlands durchstreifen, Täler durchqueren und Flüsse durchwaten. Sie jagen nach einer ganz besonderen Beute, einer stillen Beute, die nicht die geringsten Spuren hinterlässt. Bücher. Sie suchen Bücher für die vollkommenste Bibliothek, einer Sammlung aller Werke aller Autoren seit Anbeginn der Zeit.
Jahrtausende später kann Irene Vallejo* erleichtert aufatmen. Sie wurde in einem Land und zu einer Zeit geboren, wo Bücher leicht zu haben sind. Und so ist denn auch ihr Werk „Papyrus“eine Eloge an die Welt der Bücher, an ihre Leser, ihre Autoren, ihre Verleger und nicht zuletzt an die Händler, die Bücher kaufen und verkaufen, wie man Gold verkauft oder seltene Gewürze. Das Buch ist seit vielen Jahrhunderten unser Verbündeter in einem Krieg, der in keinem Geschichtsbuch steht. „Es ist der Kampf um die Bewahrung unserer wertvollsten Schöpfung: der Worte, die kaum mehr als nur ein Lufthauch sind, der Fiktionen, die wir erfinden, um dem Chaos einen Sinn zu geben und in ihm zu überleben; die wahren, falschen und immer vorläufigen Erkenntnisse, die wir in den harten Fels unserer Unwissenheit ritzen“, schreibt sie. Das Buch ist eine der schönsten Erfindungen der Menschheit.
Im Dezember 2010 wurde in Stockholm der Nobelpreis für Literatur an den Schriftsteller Mario Vargas Llosa verliehen, dessen Dankesrede ein einziges Lob auf das Lesen und die Fantasie darstellte. „Mit fünf Jahren habe ich in der Klasse von Bruder Justiniano in der Schule De La Sale von Cochabamba, Bolivien, lesen gelernt“, erzählt Mario Vargas Llosa, der 1936 in Peru geboren wurde. „Es ist das Wichtigste, was mir in meinem ganzen Leben passiert ist. Beinahe siebzig Jahre später erinnere ich mich noch deutlich, wie diese Magie, die Worte der Bücher in Bilder zu übersetzen, mein Leben bereichert hat: die Grenzen von Zeit und Raum zu durchbrechen. Das Lesen verwandelte Traum in Leben und Leben in Traum und machte mir kleinem Kerl das Universum der Literatur zugänglich.“Menschen, die lesen, machen neugierig. In welch ferne Welten haben sie sich da zurückgezogen, wer sind die Leute, denen sie begegnen, wie tief sind ihre Gefühle? „Wenn ich lese, will ich mich sammeln“, hat Goethe geschrieben. Er wird gewusst haben, dass die beiden Worte dieselbe Wurzel haben. Lesen bedeutet nach dem Duden „Verstreutes aufnehmen“. Schon vor langer Zeit entstand so eine Lesekultur. Moderne Menschen lesen Aktienmärkte und Kontaktanzeigen. Winzer sind im Herbst mit der Lese von Trauben beschäftigt.
Bücher sind Fluchtburgen vor der Welt da draußen. Mit einem Buch ist man mit sich allein. Es bereitet seelisches Behagen, provoziert und irritiert, zwingt schon mal, die gewohnte Perspektive für kurze Zeit zu verlassen, um neu hinzuschauen. Wie schnell ergreifen die Wörter Besitz vom Herzen, ein paar lächerliche Seiten
nur! Der eine Satz, der alles ändert. Dieses eine Buch, das wir nie vergessen haben.
Zum Lesen bedarf es keiner Voraussetzung außer der einen: neugierig zu sein. Neugierig auf sich und die anderen. Wer konzentriert liest, ist zunächst mit sich allein. Und wer sich von der Handlung einer Geschichte gefangen nehmen lässt, führt ein stilles Selbstgespräch. Er schafft sich eine seelische Wirklichkeit und muss über sich selbst nachdenken. Kann ihm so etwas passieren wie in der Geschichte? Hätte er ähnlich gehandelt? Glücklich darf sich ein Mensch schätzen, der immer wieder gerne hinter den fabelhaften Welten verschwindet, die zwischen Buchdeckeln schlummern.
Mit fünf Jahren
Fabelhafte Welten
Bücher können warten
Bücher sind die Sterne am Firmament unserer Biografie. In ihnen begegnen wir unserer Kindheit wieder und den Schmerzen, die uns zugefügt wurden. Ein lesender Mensch ist stets auch ein wacher Beobachter, der nie den Überblick verliert. Lesen ist eine bequeme, einsame, langsame und sinnliche Beschäftigung. Bücher können warten. Sie verfallen in eine Art Schlummer, bis sie durch die Hände, die sie aufschlagen zum Leben erweckt werden. Ohne die Lektüre von Büchern wären wir nicht zu den Menschen geworden, die wir jetzt sind.
„Heute schreibe ich, damit die Geschichten nicht versiegen“, bekennt Irene Vallejo. „In meinen Erzählungen verwebe ich Fantasien mit Träumen und Erinnerungen.“In „Papyrus“hat sie „die Geschichte der Welt in Büchern“aufgeschrieben. Selten bekommt man ein so spannendes Buch zu lesen. Danke Irene für Sätze wie: „Bücher haben schreckliche Ereignisse legitimiert, aber sie haben auch die besten Geschichten, Sinnbilder, Erkenntnisse und Erfindungen bewahrt, die die Menschheit je erdacht hat.“
* Irene Vallejo ist gemeinsam mit Antonio Muñoz Molina Festrednerin bei der Eröffnungszeremonie der Frankfurter Buchmesse am 18. Oktober und gibt dort eine literarische Einstimmung auf den Ehrengast Spanien.