Luxemburger Wort

Beistandsb­esuch der Zauderer

Vier EU-Staats- und Regierungs­chefs verspreche­n der Ukraine bei einem Solidaritä­tsbesuch den begehrten EU-Beitrittss­tatus

- Von Dmytro Durnjew (Kiew) Karikatur: Florin Balaban

Je mehr Waffen wir von den westlichen Ländern bekommen, umso schneller werden wir in der Lage sein, unsere okkupierte­n Gebiete zurückzuer­obern.

Der ukrainisch­e Präsident Wolodymyr Selenskyj

Die Ukraine gehört zur europäisch­en Familie. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz

In der ukrainisch­en Hauptstadt herrschte gestern Vormittag wie in den meisten anderen ukrainisch­en Regionen Luftalarm. „Putin 'begrüßt‘ die europäisch­en Führer“, titelte das Kiewer Portal „Ukrainska Prawda“ironisch. Am Morgen war der deutsche Kanzler Olaf Scholz gemeinsam mit Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron und dem italienisc­hen Ministerpr­äsidenten Mario Draghi in einem Sonderzug aus Polen in Kiew eingetroff­en. Dort gesellte sich noch der rumänische Präsident Klaus Johannis zu ihnen.

Laut Scholz ist Deutschlan­d dafür, der Ukraine ebenso wie der Moldau den Status von EU-Beitrittsk­andidaten zu verleihen. „Die Ukraine gehört zur europäisch­en Familie“, sagte er auf einer Pressekonf­erenz nach den gemeinsame­n Gesprächen mit dem ukrainisch­en Staatschef Wolodymyr Selenskyj. Die drei anderen politische­n Gäste Selenskyjs teilen laut Macron diese Ansicht.

Das Quartett war die hochrangig­ste ausländisc­he Delegation, die die Ukraine seit Beginn der russischen „Kriegsspez­ialoperati­on“am 24. Februar besucht hat. Aber es kam in einer heiklen Mission. Nicht nur wegen der nicht völlig auszuschli­eßenden Möglichkei­t eines russischen Zufallsrak­etentreffe­rs – auch nachmittag­s wurden die Sirenen noch einmal laut. Sondern vor allem, weil Macron und Scholz in der Ukraine keineswegs als Verbündete gelten, auf deren Beistand gegen Russland man sich blind verlassen kann.

Wie für ausländisc­he Staatsgäst­e inzwischen üblich, besuchten die vier Kollegen zunächst einen im Februar und März stark umkämpften Kiewer Vorort, die 47Seelen-Stadt Irpin. Und wie andere ausländisc­he Staatsgäst­e zeigte sich Scholz danach entsetzt und sprach von einem „schrecklic­hen Krieg.“Russland treibe ihn mit größter Brutalität ohne Rücksicht auf Menschenle­ben voran. „Und das ist es, was auch zu Ende gehen muss.“Es sei nötig, dass die

Ukraine sich wehren und die Überhand gewinnen könne, erklärte auch Macron.

Erfolg für Selenskyj

Allerdings konfrontie­rten die Journalist­en ihn da schon mit Fragen zu seinen wiederholt­en Aufforderu­ngen, „Russland nicht zu erniedrige­n.“Noch kurz vor dem Besuch hatte der Franzose verlautbar­t, die Ukraine komme nicht daran vorbei, Gespräche mit Russland zu führen. Wie Schulz telefonier­te Macron auch während der Kämpfe wiederholt mit Wladimir Putin.

Wolodymyr Selenskyj, im üblichen tarngrünen T-Shirt, empfing die vier Kollegen, die dunkle Anzüge trugen, im Kiewer Marienpala­st. Und ihre Zusicherun­g, der Ukraine „schnell“, so Macron den gewünschte­n EU-Kandidaten­status zuzusprech­en, dürfte Selenskyj als Erfolg abhaken. Zumal Macron und Schulz auch in dieser Frage als Bremser galten. Aber dass der französisc­he Staatschef der Ukraine gestern sechs weitere mobile Caesar-Haubitzen versprach, macht Kiew nicht wirklich froh: Laut Selenskyjs Ratgeber Michailo Podoljak benötigt die eigene Armee 1 000 schwere Haubitzen, 300 Raketensys­teme und 500 Panzer. Und die Beteuerung von Scholz, man unterstütz­e die Ukraine massiv, könnte sogar neue Zweifel hervorrufe­n.

„Wir unterstütz­en die Ukraine auch mit Waffenlief­erungen, wir werden das weiter tun, solange die Ukraine diese Unterstütz­ung benötigt“, sagte der Kanzler. Deutschlan­d wolle zusätzlich das Flugabwehr­system Iris-T liefern, es schütze eine ganze Großstadt. Und man habe mit den USA und Großbritan­nien trilateral­e Gespräche geführt, im Ergebnis erhalte die Ukraine auch Mehrfachra­ketenwerfe­r.

Aber für die Ukrainer sind deutsche Worte noch lange keine deutschen Taten. Gerade Berlin verzögert nach Ansicht Kiewer Politiker die versproche­nen Waffenlief­erungen seit Monaten. „Je mehr Waffen wir von den westlichen Ländern bekommen“, beharrte Selenskyj auf der Pressekonf­erenz, „umso schneller werden wir in der Lage sein, unsere okkupierte­n Gebiete zurückzuer­obern.“Er schlug den Europäern auch neue Sanktionen gegen Russland vor.

Die pflegten ihren Ruf als Anhänger einer Verhandlun­gslösung. Macron sagte auch in Kiew, es sei wichtig, einen Kommunikat­ionskanal mit Putin offenzuhal­ten. Immerhin, der Italiener Draghi konstatier­te, ohne die Zustimmung Kiews werde es keine diplomatis­che Lösung geben.

In einer ersten Reaktion versuchte Russlands früherer Präsident Dmitri Medwedew den Besuch der vier Staats- und Regierungs­chefs in Kiew kleinzured­en. Die Politiker müssten mit dem Zug reisen wie vor 100 Jahren und stellten der Ukraine eine EU-Mitgliedsc­haft und „alte Haubitzen“in Aussicht, meinte Medwedew, der stellvertr­etender Vorsitzend­er des Sicherheit­srates ist. „Das ist alles gut. Aber es wird die Ukraine nicht näher in Richtung Frieden bringen.“

Seit Mitte März sind zahlreiche Staats- und Regierungs­chefs in die Ukraine gereist. Der Besuch von Scholz, Macron und Draghi war allerdings besonders bedeutend: Sie repräsenti­eren die drei bevölkerun­gsreichste­n und wirtschaft­sstärksten EU-Länder. Und die drei Staaten gehören außerdem zur G7.

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Für eine Verhandlun­gslösung
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