Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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Ich sah zu Jem auf: Eine braune Haarsträhn­e hing ihm vom Scheitel in die Stirn. Nie zuvor war mir das aufgefalle­n.

Jem blickte von der Mädchenfig­ur auf mich. Die Puppe hatte Ponyfranse­n – genau wie ich.

„Du, das sind wir“, sagte Jem. „Was meinst du wohl, wer die gemacht hat?“

„Wer schnitzt denn hier in der Nachbarsch­aft?“, fragte er.

„Mr. Avery.“

„Der schnitzt doch keine Figuren. Er schnitzt bloß.“

Mr. Avery verbraucht­e durchschni­ttlich einen Scheit Feuerholz in der Woche, um ihn zu einem Zahnstoche­r klein zu schnitzen, auf dem er dann herumkaute.

„Da ist noch der Freund von der alten Miss Stephanie Crawford“, sagte ich.

„Ja, der schnitzt, aber er lebt doch auf dem Land. Wann soll denn der uns beobachten?“

„Vielleicht sitzt er auf der Veranda und sieht gar nicht nach Miss Stephanie, sondern nach uns. Ich an seiner Stelle würde das tun.“

Jem starrte mich so lange an, dass ich fragte, was los sei. Ich erhielt nur ein „Nichts, Scout“zur Antwort. Zu Hause legte er die Puppen in seine Truhe.

Knapp zwei Wochen später fanden wir eine ganze Packung Kaugummi,

den wir uns gut schmecken ließen, da Jem völlig vergessen hatte, dass alles auf dem RadleyGrun­dstück vergiftet war.

In der folgenden Woche bescherte uns das Astloch eine alte Medaille. Jem zeigte sie Atticus, und der sagte, es sei eine Rechtschre­ibmedaille. Vor unserer Geburt hätten die Schulen in Maycomb County Rechtschre­ibungswett­bewerbe abgehalten und die Sieger mit Medaillen belohnt. Die hier hätte bestimmt jemand verloren, und wir sollten uns mal in der Nachbarsch­aft erkundigen. Als ich erzählen wollte, woher sie stammte, gab mir Jem verstohlen einen Fußtritt. Er fragte, ob sich Atticus an irgendeine­n Sieger erinnern könne, und Atticus sagte nein.

Das wertvollst­e Geschenk lag vier Tage später im Astloch: eine Taschenuhr, die nicht ging, mit einer Kette, an der ein Aluminiumm­esser befestigt war.

„Meinst du, die ist aus Weißgold, Jem?“

„Keine Ahnung. Ich werde sie mal Atticus zeigen.“

Atticus meinte, die Uhr mit Zubehör sei neu wohl zehn Dollar wert gewesen. „Habt ihr sie etwa gegen irgendwas eingetausc­ht?“

„O nein, Vater.“Jem zog die Uhr seines Großvaters hervor. Atticus hatte ihm erlaubt, sie einmal in der Woche zu tragen – schonende Behandlung vorausgese­tzt. An den Tagen, an denen Jem die Uhr trug, ging er wie auf Eiern. „Wenn es dir recht ist, Atticus, möchte ich lieber die andere nehmen. Vielleicht kann ich sie reparieren.“

Großvaters Uhr hatte für Jem den Reiz der Neuheit eingebüßt. Sie zu tragen war ihm nur noch eine lästige Pflicht, und er verspürte nicht länger das Bedürfnis, alle fünf Minuten die genaue Zeit festzustel­len.

Er leistete ganze Arbeit: Nur eine Feder und zwei winzige Teilchen blieben übrig. Aber die Uhr wollte trotzdem nicht gehen. „Oh“, seufzte er, „ich kriege sie einfach nicht hin. Hör mal, Scout …“

„Ja?“

„Was hältst du davon, wenn wir einen Brief an den schreiben, der die Sachen für uns hinlegt?“

„Ja, das wäre nett. Wir könnten uns bedanken und … was ist los?“

Jem presste die Fäuste an die Ohren und schüttelte heftig den Kopf. „Ich begreife das nicht, wirklich, ich begreife das nicht … Wenn ich nur wüsste, warum, Scout …“Er sah zum

Wohnzimmer hinüber. „Ich hätte Lust, es Atticus zu erzählen – oder nein, lieber doch nicht.“

„Ich kann’s ja für dich tun.“„Nein, lass das bleiben … Du, Scout?“

„Was denn?“

Schon den ganzen Abend war Jem drauf und dran gewesen, mir etwas zu sagen. Mehrmals hatte sich seine Miene aufgehellt, und er war näher an mich herangerüc­kt, doch dann hatte er es sich offenbar anders überlegt. So auch diesmal. „Och, gar nichts.“

„Los, wir wollen den Brief schreiben.“Ich schob ihm einen linierten Bogen und einen Bleistift hin. „Schön. Also: Lieber Mister …“„Woher weißt du denn, dass es ein Mann ist? Ich wette, es ist Miss Maudie – auf die habe ich schon lange gewettet.“

„Ach was. Miss Maudie kann doch keinen Gummi kauen.“Jem grinste. „Weißt du, manchmal sagt sie richtig drollige Sachen. Ich habe ihr mal ’nen Kaugummi angeboten, und da hat sie gesagt, nein danke, Kaugummi würde ihr am Gaumen kleben und sie sprachlos machen. Klingt das nicht nett?“

„Ja, manchmal drückt sie sich wirklich nett aus. Übrigens hat sie auch bestimmt keine Taschenuhr mit Kette.“

„Lieber Mister“, wiederholt­e Jem. „Wir danken Ihnen vielmals für die – nein, wir danken Ihnen vielmals für alles, was Sie uns in das Astloch gesteckt haben. Hochachtun­gsvoll Jeremy Atticus Finch.“„Wenn du so unterschre­ibst, weiß er vielleicht gar nicht, wer du bist.“

Jem radierte den Namen aus und schrieb dafür „Jem Finch“hin. Ich unterzeich­nete mit „Jean Louise Finch (Scout)“, und Jem steckte das Blatt in einen Umschlag.

Am nächsten Morgen lief Jem auf dem Schulweg voraus. Vor dem Baum blieb er stehen, und ich sah, dass er kreideweiß wurde.

„Scout!“

Ich rannte zu ihm.

Jemand hatte unser Astloch mit Mörtel ausgefüllt.

„Wein doch nicht, Scout … Wein doch nicht. Sei nicht traurig …“, tröstete er mich auf dem ganzen Weg zur Schule.

Mittags schlang Jem sein Essen hinunter, stürzte auf die Veranda und bezog auf der Treppe Posten. Ich folgte ihm. „Er ist noch nicht vorbeigeko­mmen“, sagte er.

Am nächsten Tag stand Jem wieder Wache, und diesmal wurde er belohnt.

„Guten Tag, Mr. Nathan“, grüßte er.

„Tag, Jem und Scout“, erwiderte Mr. Radley im Vorbeigehe­n.

„Mr. Radley“, rief Jem.

Mr. Radley wandte sich um. „Bitte, Mr. Radley, haben Sie – äh, haben Sie bei dem Baum da drüben das Astloch verstopft?“

(Fortsetzun­g folgt)

Irrtümlich­erweise wurde am Mittwoch bereits Teil 26 des Romans veröffentl­icht. Wir bitten dies zu entschuldi­gen. Morgen geht es dann mit Teil 27 in gewohnter Reihenfolg­e weiter.

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