Der lange, steinige Weg in Richtung EU
Was die Ernennung zum EU-Beitrittskandidaten konkret für die Ukraine bedeutet
Wenn es um die Frage eines möglichen EU-Beitritts ging, wurde die Ukraine in der Vergangenheit immer wieder vertröstet. Russlands Krieg gegen das osteuropäische Land hat nun aber unerwartet Tempo in die Annäherung Kiews an die EU gebracht. Beim EU-Gipfel in Brüssel wurde am Donnerstagabend eine historische Entscheidung getroffen: Die Ukraine ist jetzt EU-Beitrittskandidat. EU-Ratspräsident Charles Michel, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj und Luxemburgs Premier Xavier Bettel sprachen von einem „historischen Moment“.
Relevant ist der Status in erster Linie psychologisch und symbolisch. Die EU zeigt den mehr als 40 Millionen Ukrainern, dass sie eine Perspektive haben, EU-Bürger zu werden. Er soll zudem ein Zeichen sein, dass es sich lohnt, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen. „Die Ukraine steht an der Frontlinie und verteidigt europäische Werte“, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kürzlich.
Einen Automatismus zwischen Kandidatenstatus und Finanzhilfen gibt es allerdings nicht. Für die Beitrittskandidaten sind von 2021 bis 2027 insgesamt 14,16 Milliarden Euro als sogenannte Heranführungshilfen vorgesehen. Das Geld soll Reformen unterstützen, die Auszahlung muss jedoch von den EU-Mitgliedstaaten bewilligt werden. Unter dem Strich dürften die Finanzhilfen aber ohnehin nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein. Denn der Wiederaufbau der hoch verschuldeten Ukraine wird ersten Schätzungen zufolge weit mehr als eine Billion Euro kosten.
Und ob der jetzige Kandidatenstatus tatsächlich eines Tages zu einer EU-Mitgliedschaft führt, kann niemand vorhersagen. Die Türkei etwa wurde 2005 EU-Kandidat – und war wohl noch nie weiter von einer Mitgliedschaft entfernt als heute. Außerdem muss jeder Schritt der Annäherung einstimmig von den EU-Staaten beschlossen werden.
Die Hausaufgaben der Ukraine
Die Ukraine muss vor dem Beginn von Beitrittsverhandlungen zunächst sieben Voraussetzungen erfüllen. Es geht unter anderem um das Auswahlverfahren ukrainischer Verfassungsrichter und eine stärkere Korruptionsbekämpfung – insbesondere auf hoher Ebene. Auch fordert die EU-Kommission, dass Standards im Kampf gegen Geldwäsche eingehalten werden und ein Gesetz gegen den übermäßigen Einfluss von Oligarchen umgesetzt wird.
Doch kann die Ukraine diese Voraussetzungen in absehbarer Zeit erfüllen? Das ist äußerst unwahrscheinlich. Denn der Europäische Rechnungshof stellte dem Land noch im September – vor Kriegsbeginn – ein verheerendes Zeugnis aus. „Obwohl die Ukraine Unterstützung unterschiedlichster Art vonseiten der EU erhält, untergraben Oligarchen und Interessengruppen nach wie vor die Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine und gefährden die Entwicklung des Landes“, hieß es damals.
Zwar hätte EU-Hilfe dazu beigetragen, die ukrainische Verfassung sowie eine Vielzahl von Gesetzen zu überarbeiten. Die Errungenschaften seien allerdings ständig gefährdet, und es gebe zahlreiche Versuche, Gesetze zu umgehen und die Reformen zu verwässern. Das gesamte System der strafrechtlichen Ermittlung und Strafverfolgung sowie der Anklageerhebung bei Korruptionsfällen sei alles andere als gefestigt.
Hinzu kommt, dass die Europäische Union vielen schon jetzt – mit 27 Mitgliedern – als zu behäbig gilt. Weil in Bereichen wie der Außenpolitik Entscheidungen einstimmig getroffen werden müssen, kommt es immer wieder zu Blockaden, wie man am Beispiel Nord-Mazedonien beobachten kann. Deshalb meint etwa der deutsche Kanzler Olaf Scholz, die EU müsse sich „erweiterungsfähig“machen. Dazu gehöre auch, für einige Entscheidungen das Prinzip der Einstimmigkeit aufzuheben. Jedoch ist es sehr unwahrscheinlich, dass alle Mitgliedstaaten bereit sind, umfangreichen Vertragsänderungen zuzustimmen und dabei ihr Veto-Recht aufzugeben.
Der Ukraine-Krieg spielt indes eine zweischneidige Rolle im Erweiterungsprozess. Einerseits hätte die Ukraine ohne diesen Angriff wohl niemals so schnell den EU-Kandidatenstatus bekommen. Andererseits dürfte der Krieg die Bemühungen erschweren, die Auflagen für den Beginn der Beitrittsverhandlungen zu erfüllen.
Bereits seit längerem Beitrittskandidaten sind neben der Türkei die Länder Albanien, Nord-Mazedonien, Montenegro und Serbien. Hinzu kommen Bosnien-Herzegowina und das Kosovo als sogenannte potenzielle Kandidaten. Moldau wurde beim EU-Gipfel wie die Ukraine zum EU-Kandidaten gemacht. Georgien soll zunächst Reformen erfüllen, ehe es so weit ist.
Hoffnung für Westbalkan-Staaten Neue Hoffnung auf die baldige Aufnahme von Beitrittsverhandlungen keimt derweil in Nord-Mazedonien und Albanien auf, nachdem das bulgarische Parlament sich am Freitag für eine Aufhebung des Vetos gegen den Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen mit Nord-Mazedonien ausgesprochen hat. Von dem Veto ist auch der EU-Kandidat Albanien betroffen. Bosnien-Herzegowina kann dagegen hoffen, bald in den Kreis der Beitrittskandidaten aufgenommen zu werden. Nach Angaben von EU-Ratspräsident Charles Michel soll die EU-Kommission zügig einen neuen Bericht zu den Reformanstrengungen des Landes vorlegen. Die EU-Staats- und Regierungschefs wären dann bereit, eine Entscheidung über den Beitrittskandidatenstatus des Landes zu treffen. mit dpa