Angst, auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen
Auch in Armenien sind russische Truppen aktiv – sie gelten jedoch als „Friedensgaranten“
Dimitrij kann nicht mehr zurück. Und er will auch nicht. Zumindest so lange, wie Putin an der Macht ist. Sechs Tage nach dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine hatte der Bratschist in einem Sankt Petersburger Orchester seine Koffer gepackt und war über Moskau nach Jerewan geflogen. „Eigentlich wollte ich schon früher weg. Doch nach dem barbarischen Überfall auf unser Nachbarland war für mich das Maß endgültig voll“, erzählt der Musiker im „Malocco“bei einer Tasse Tee.
Das Café liegt an der TamayanStraße von Jerewan, am Fuße der 118 Meter hohen Kaskaden, einem der Wahrzeichen der armenischen Hauptstadt. Dutzende von stimmungsvollen Restaurants und Bars haben sich dort angesiedelt. Die meisten Gäste kommen aus Russland. Sie erkennen sich, neben der Sprache, an ihrer lässigen, nicht selten extravaganten Kleidung, mit der sie sich optisch von den konservativer auftretenden
Einheimischen abheben. Das gilt auch für den Bratschisten Dimitrij, dem vor einigen Tagen eine neue Stelle in einem Orchester in Karlsruhe in Aussicht gestellt wurde.
Ohne Aussicht auf Rückkehr
Eine Rückkehr in die Heimat, berichtet er traurig, sei auch deshalb nicht möglich, weil er auf Facebook eine Putin-Karikatur „geliked“habe. Ein solches „Vergehen“werde inzwischen mit bis zu vier Jahren Gefängnis bestraft. So wie Dimitrij ergeht es vielen der etwa 90 000 Russen, die nach Putins Überfall auf die Ukraine nach Armenien auswanderten. „Wir wissen, dass wir so bald nicht zurückkönnen und müssen daher noch einmal von vorne anfangen“, sagt Tolja.
Der 28 Jahre alte Softwareentwickler aus Rostow am Don kann auch von Jerewan aus seine Arbeit fortsetzen. „Ohne bürokratische Schikanen“erhielt er den Status eines Einzelunternehmers, der auch zu Eröffnung eines Bankkontos
berechtigt. Etwa 1 500 „Freischaffende“sind in Armenien bereits tätig. Fast alle im IT-Bereich. Rund 9 000 Russen bekamen eine Anstellung bei lokalen SoftwareUnternehmen, bei denen sie mit etwa 500 Euro im Monat fast genauso viel verdienen wie in Russland.
Allerdings seien die Lebenshaltungskosten in Armenien viel niedriger als zu Hause und das Essen in den Restaurants sei „um Längen besser“, freut sich Tolja. Was ihn störe, sei die Sympathie, die viele Armenier noch immer Wladimir Putin entgegenbrächten. Allerdings hat diese Zuneigung nicht so viel mit dem Krieg in der Ukraine zu tun. Putin – und damit Russland – ist in Armenien vor allem deshalb beliebt, weil russische Soldaten in der Region Berg-Karabach den noch immer fragilen Frieden garantieren.
Schutz vor den Nachbarn
Würde die rund 2 000 Mann starke russische „Friedenstruppe“nicht die Grenzen mit Aserbaidschan sichern, so die weitverbreitete Ansicht, hätten die „türkischen Nachbarn“nach ihrem Sieg im 44-Tage-Krieg vor anderthalb Jahren längst den Vormarsch auf armenisches Territorium fortgesetzt. „Einzig den Russen haben wir es zu verdanken, dass wir in Berg-Karabach nicht alles verloren haben“, weiß Hagop, ein Winzer aus der Kleinstadt Areni. Als Frontsoldat in Berg-Karabach hatte er „hautnah“erlebt, „wie wir von den Aserbaidschanern gedemütigt wurden“.
Russland und Armenien hatten bereits vor dem Krieg in Berg-Karabach, bei dem auf beiden Seiten über 6 000 Soldaten ums Leben kamen, ein Abkommen über eine strategische Partnerschaft geschlossen. Die armenische Abhängigkeit von Russland verstärkte sich nach dem von Moskau vermittelten Waffenstillstand, welcher die Entsendung von knapp 2 000 russischen „Friedenstruppen“beinhaltete. Mehr als 10 000 russische Soldaten sind seither in Armenien stationiert. Sie kontrollieren nicht nur die Waffenstillstandslinien in Berg-Karabach, sondern auch die 311 Kilometer lange armenisch-türkische Grenze im Westen des Landes.
Sorge vor neuer Sowjetunion
Entsprechend schwierig ist es für den armenischen Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan, sich von Putin abzugrenzen. Die KaukasusRepublik weigert sich zwar, die in der Ostukraine proklamierten „Republiken“diplomatisch anzuerkennen. In der Vollversammlung der Vereinten Nationen lehnte sie es aber ab, den russischen Angriff auf die Ukraine zu verurteilen. „Seit zwanzig Jahren kämpft Armenien um ein strategisches Gleichgewicht zwischen der Sicherheitspartnerschaft mit Russland und unserem Interesse, die Beziehungen zur EU zu vertiefen“, versucht Richard Giragosian die Gratwanderung seines Landes zwischen Moskau und Brüssel zu erklären.
Der Direktor einer in Jerewan ansässigen Denkfabrik rechnet damit, dass Moskau in den kommenden Monaten „mehr Unterstützung und offenere Loyalität“einfordern könnte. Das diplomatische Gleichgewicht könnte dann endgültig verloren gehen und Armenien „auf der falschen Seite der Geschichte stehen“. Noch schlimmere Folgen für die drei Millionen-Einwohner-Republik hätte „ein russischer Sieg über die Ukraine“, befürchtet der armenische Politologe Daniel Ioannsiyan.
„Unser Land wäre dann womöglich gezwungen, einer Art neuen Sowjetunion beizutreten“. Nutznießer einer Niederlage Putins im Ukraine-Konflikt oder einer Pattsituation wäre dagegen die Regionalmacht Türkei. Sie könnte dann – wiederum auf Kosten Armeniens – ihren Einfluss im Süd-Kaukasus weiter ausbauen. Neben den russischen „Friedenstruppen“überwachen inzwischen auch gut 100 türkische Soldaten den Waffenstillstand in Berg-Karabach. Ankara möchte die Streitmacht vervielfachen, was Moskau bisher verhinderte.
Der verlorene Krieg hatte Armenien in eine schwere Krise gestürzt. Für die vielen Toten und territorialen Verluste wurde Premierminister Paschinjan verantwortlich gemacht. Nicht wenige
Unser Land wäre dann womöglich gezwungen, einer Art neuen Sowjetunion beizutreten. Daniel Ioannsiyan, Politologe
Armenier bezeichnen ihn als einen „Verräter“, weil er am 9. November 2020 die als Kapitulation empfundene Waffenstillstandsvereinbarung unterzeichnet hatte. Für einen von der Opposition angestrebten Sturz Paschinjans fehlte jedoch die Unterstützung – und ist inzwischen kein Thema mehr.
Das Protestcamp ist verwaist
Das von der Opposition eingerichtete „Protestcamp“am Opernhaus von Jerewan ist verwaist. Das beherrschende Thema ist nicht mehr der Krieg in Berg-Karabach, sondern die Schlacht um die Ukraine, von der Armenien – im Moment zumindest – noch profitiert: Der Zuzug von fast 100 000 Russen hat in dem bitterarmen Land einen kleinen Wirtschaftsboom ausgelöst. Die Umsiedlung in den Süd-Kaukasus wird von der Regierung begrüßt und aktiv unterstützt. Wer sich in Jerewan niederlassen möchte, findet im Internet alle notwendigen Informationen. Selbst die Mitnahme von Haustieren wird gestattet. „So richtig wohl“, sagt Sergej, sei ihm in Jerewan aber dennoch nicht.
Wir trafen den Programmierer auf dem „Vernissage“-Kunstmarkt unweit des Opernhauses von Jerewan. Wie fast alle seiner Landsleute wollte der 26 Jahre alte Russe seinen Nachnamen nicht nennen und sich auch nicht fotografieren lassen: „Schließlich bin ich im besten wehrpflichtigen Alter“. Was Sergej Sorgen macht, sind die
Wir wissen, dass wir so bald nicht zurückkönnen und müssen daher noch einmal von vorne anfangen. Tolja, Softwareentwickler
engen Beziehungen zwischen Jerewan und Moskau. Noch erhielten Russen in Armenien Freiheiten, von denen sie in der Heimat nur träumen könnten. Sollte der Krieg in der Ukraine jedoch länger dauern, könnte sich dies ändern.
Von der Spitze der Kaskade in Jerewan aus hat man einen guten Blick auf den legendären biblischen Berg Ararat, der den Armeniern heilig ist.
Von Freunden wisse er, dass russische Geheimdienste die vielen Immigranten genau beobachteten. Und der „KGB“, wie Sergej ironisch vom berüchtigten Geheimdienst aus Sowjetzeiten spricht, habe bekanntlich einen langen Arm. Sergej erwägt daher um einen „Umzug“nach Georgien. Die dortige Regierung stünde dem Regime in Moskau deutlich kritischer gegenüber.
Einzig den Russen haben wir es zu verdanken, dass wir in Berg Karabach nicht alles verloren haben. Hagop, Winzer