Wer die Nachtigall stört
29
Wie Nebel, der vom Fluss aufsteigt, wallte Rauch über unserem Haus und dem von Miss Rachel. Männer zogen Schläuche heran. Hinter uns nahm das Feuerwehrauto aus Abbottsville mit quietschenden Reifen die Kurve. Es hielt vor unserem Tor.
„Das Buch …“, stieß ich hervor. „Was für ein Buch?“
„Der Band Tom Swift. Er gehört mir nicht, er gehört Dill …“
„Keine Angst, Scout, so weit ist’s noch nicht“, sagte Jem. „Sieh doch …“Er deutete auf Atticus, der mit Miss Maudie inmitten einer Gruppe von Nachbarn stand, ruhig und gelassen, die Hände in den Manteltaschen, als schaue er einem Footballspiel zu. „Solange er sich noch keine Sorgen macht …“
„Warum ist er nicht auch auf eins von den Dächern gestiegen?“
„Er ist zu alt, er würde sich den Hals brechen.“
„Wollen wir ihm nicht sagen, dass er unsere Sachen rausholen soll?“
„Lieber nicht. Er wird sie schon holen, wenn’s so weit ist.“
Die Feuerwehr von Abbottsville spritzte jetzt Wasser auf unser Haus. Ein Mann auf dem Dach bezeichnete die Stellen, die besonders gefährdet waren. Ich sah unseren „absoluten Morphoditen“schwarz werden und in sich zusammensinken. Miss Maudies Sonnenhut lag auf dem Häuflein; die Heckenschere konnte ich nicht entdecken. Zwischen Miss Maudies, Miss Rachels und unserem Haus war es so heiß, dass die Männer ihre Mäntel und Morgenröcke abgeworfen hatten. Sie arbeiteten in Schlafanzugjacken oder Nachthemden, die in die Hosen gestopft waren. Ich aber merkte, wie ich langsam erstarrte. Jem versuchte mich zu wärmen, doch sein Arm genügte nicht. Ich machte mich los, umklammerte mit beiden Händen meine Schultern und hüpfte herum, bis ich meine Füße wieder spürte.
Ein drittes Feuerwehrauto erschien und hielt vor Miss Stephanie Crawfords Haus. Für den Schlauch war jedoch kein Hydrant mehr frei, und so mussten die Männer zu Handlöschern greifen.
Miss Maudies Blechdach drückte die Flammen nach unten. Krachend stürzte das Haus zusammen. Glut ergoss sich über alles, und die Männer auf den Dächern der Nachbarhäuser schlugen mit nassen Decken auf Funken und brennende Holzteile ein.
Der Morgen dämmerte schon, als die Männer, zuerst einzeln, dann in Gruppen, den Heimweg antraten. Das Feuerwehrauto von Maycomb wurde in die Stadt zurück geschoben, der Wagen von Abbottsville fuhr ab, nur der dritte blieb da. Wie wir am nächsten Tag hörten, war er sechzig Meilen weit aus Clark’s Ferry gekommen.
Jem und ich liefen über die Straße. Miss Maudie starrte auf die rauchenden Trümmer, und Atticus bedeutete uns mit einem Kopfschütteln, sie in Ruhe zu lassen. Als wir nach Hause gingen, stützte er sich auf unsere Schultern, denn die Straße war völlig vereist. Er sagte, Miss Maudie werde vorläufig bei Miss Stephanie wohnen.
„Wie wär’s mit heißer Schokolade?“, fragte er und entzündete ein Feuer im Herd. Beim Anblick der Flammen begann ich zu zittern.
Während wir Kakao tranken, merkte ich, dass Atticus mich erst neugierig, dann streng anschaute.
„Wenn ich mich recht erinnere, habe ich ausdrücklich gesagt, ihr sollt euch nicht vom Fleck rühren.“
„Das haben wir ja auch nicht getan. Wir sind …“
„Wem gehört dann die Wolldecke?“
„Wolldecke?“
„Ja, Miss, Wolldecke! Unsere ist es nicht.“
Ich sah an mir herab und stellte fest, dass ich wie eine Indianerfrau in eine braune Wolldecke gehüllt war.
„Atticus, ich weiß nicht … Wirklich nicht …“
Ich wandte mich hilfesuchend an Jem, doch er war verblüffter als ich. Er beteuerte, er wisse nicht, wo sie herkomme. Wir hätten vor Radleys Tor gestanden und uns nicht vom Fleck gerührt, genau wie es Atticus uns … Jem hielt mitten im Satz inne. „Mr. Nathan war beim Feuer“, stammelte er, „ich hab ihn gesehen, er hat eine Matratze geschleppt … Vater, ich schwöre …“
Atticus’ Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Schon gut, mein Junge. Heute Nacht ist wohl ganz Maycomb auf den Beinen gewesen. Jem, geh mal in die Speisekammer, ich glaube, da liegt Packpapier. Wir werden …“
„Nein, Atticus, nein!“
Ich fragte mich, ob Jem den Verstand verloren hatte. Ohne Rücksicht darauf, dass er nicht nur sich, sondern auch mich gefährdete, gab er unsere sämtlichen Geheimnisse preis: Astloch, Hose, alles.
„… Mr. Nathan hat Mörtel in den Baum gestopft, Atticus, damit wir nichts mehr finden können … Vielleicht stimmt es, dass er verrückt ist, aber ich schwöre bei Gott, Atticus, er hat uns nie was getan, er hat uns nie geschadet. In der Nacht damals hätte er mir die Kehle von einem Ohr zum anderen aufschlitzen können, und stattdessen hat er versucht, meine Hose zu flicken … Er hat uns nie was getan, Atticus …“
„Beruhige dich, mein Junge.“Atticus’ Stimme klang so sanft, dass ich neuen Mut fasste. Anscheinend hatte er nicht ein Wort von Jems wirrem Gerede begriffen, denn er sagte nur: „Du hast recht. Am besten behalten wir alles und auch die Wolldecke für uns. Vielleicht hat Scout eines Tages Gelegenheit, sich bei ihm zu bedanken.“
„Bei wem?“, fragte ich.
„Bei Boo Radley. Du warst so mit dem Feuer beschäftigt, dass du nicht bemerkt hast, wie er dir die Decke umgehängt hat.“
Mein Magen hob sich, und ich dachte, ich müsste mich übergeben, als sich Jem mit der ausgebreiteten Wolldecke an mich heranpirschte.
„Siehst du, so ist er aus dem Haus geschlichen … Hinter dir – dreh dich um – ist er stehen geblieben, und schon war er wieder weg.“
„Lass dich dadurch nicht zu weiteren Ruhmestaten hinreißen, Jeremy“, sagte Atticus trocken.
Jem schob die Unterlippe vor. „Ich will ihm doch gar nichts tun“, knurrte er, aber ich sah, wie ihm die Abenteuerlust aus den Augen sprühte.