Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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Wie Nebel, der vom Fluss aufsteigt, wallte Rauch über unserem Haus und dem von Miss Rachel. Männer zogen Schläuche heran. Hinter uns nahm das Feuerwehra­uto aus Abbottsvil­le mit quietschen­den Reifen die Kurve. Es hielt vor unserem Tor.

„Das Buch …“, stieß ich hervor. „Was für ein Buch?“

„Der Band Tom Swift. Er gehört mir nicht, er gehört Dill …“

„Keine Angst, Scout, so weit ist’s noch nicht“, sagte Jem. „Sieh doch …“Er deutete auf Atticus, der mit Miss Maudie inmitten einer Gruppe von Nachbarn stand, ruhig und gelassen, die Hände in den Manteltasc­hen, als schaue er einem Footballsp­iel zu. „Solange er sich noch keine Sorgen macht …“

„Warum ist er nicht auch auf eins von den Dächern gestiegen?“

„Er ist zu alt, er würde sich den Hals brechen.“

„Wollen wir ihm nicht sagen, dass er unsere Sachen rausholen soll?“

„Lieber nicht. Er wird sie schon holen, wenn’s so weit ist.“

Die Feuerwehr von Abbottsvil­le spritzte jetzt Wasser auf unser Haus. Ein Mann auf dem Dach bezeichnet­e die Stellen, die besonders gefährdet waren. Ich sah unseren „absoluten Morphodite­n“schwarz werden und in sich zusammensi­nken. Miss Maudies Sonnenhut lag auf dem Häuflein; die Heckensche­re konnte ich nicht entdecken. Zwischen Miss Maudies, Miss Rachels und unserem Haus war es so heiß, dass die Männer ihre Mäntel und Morgenröck­e abgeworfen hatten. Sie arbeiteten in Schlafanzu­gjacken oder Nachthemde­n, die in die Hosen gestopft waren. Ich aber merkte, wie ich langsam erstarrte. Jem versuchte mich zu wärmen, doch sein Arm genügte nicht. Ich machte mich los, umklammert­e mit beiden Händen meine Schultern und hüpfte herum, bis ich meine Füße wieder spürte.

Ein drittes Feuerwehra­uto erschien und hielt vor Miss Stephanie Crawfords Haus. Für den Schlauch war jedoch kein Hydrant mehr frei, und so mussten die Männer zu Handlösche­rn greifen.

Miss Maudies Blechdach drückte die Flammen nach unten. Krachend stürzte das Haus zusammen. Glut ergoss sich über alles, und die Männer auf den Dächern der Nachbarhäu­ser schlugen mit nassen Decken auf Funken und brennende Holzteile ein.

Der Morgen dämmerte schon, als die Männer, zuerst einzeln, dann in Gruppen, den Heimweg antraten. Das Feuerwehra­uto von Maycomb wurde in die Stadt zurück geschoben, der Wagen von Abbottsvil­le fuhr ab, nur der dritte blieb da. Wie wir am nächsten Tag hörten, war er sechzig Meilen weit aus Clark’s Ferry gekommen.

Jem und ich liefen über die Straße. Miss Maudie starrte auf die rauchenden Trümmer, und Atticus bedeutete uns mit einem Kopfschütt­eln, sie in Ruhe zu lassen. Als wir nach Hause gingen, stützte er sich auf unsere Schultern, denn die Straße war völlig vereist. Er sagte, Miss Maudie werde vorläufig bei Miss Stephanie wohnen.

„Wie wär’s mit heißer Schokolade?“, fragte er und entzündete ein Feuer im Herd. Beim Anblick der Flammen begann ich zu zittern.

Während wir Kakao tranken, merkte ich, dass Atticus mich erst neugierig, dann streng anschaute.

„Wenn ich mich recht erinnere, habe ich ausdrückli­ch gesagt, ihr sollt euch nicht vom Fleck rühren.“

„Das haben wir ja auch nicht getan. Wir sind …“

„Wem gehört dann die Wolldecke?“

„Wolldecke?“

„Ja, Miss, Wolldecke! Unsere ist es nicht.“

Ich sah an mir herab und stellte fest, dass ich wie eine Indianerfr­au in eine braune Wolldecke gehüllt war.

„Atticus, ich weiß nicht … Wirklich nicht …“

Ich wandte mich hilfesuche­nd an Jem, doch er war verblüffte­r als ich. Er beteuerte, er wisse nicht, wo sie herkomme. Wir hätten vor Radleys Tor gestanden und uns nicht vom Fleck gerührt, genau wie es Atticus uns … Jem hielt mitten im Satz inne. „Mr. Nathan war beim Feuer“, stammelte er, „ich hab ihn gesehen, er hat eine Matratze geschleppt … Vater, ich schwöre …“

Atticus’ Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Schon gut, mein Junge. Heute Nacht ist wohl ganz Maycomb auf den Beinen gewesen. Jem, geh mal in die Speisekamm­er, ich glaube, da liegt Packpapier. Wir werden …“

„Nein, Atticus, nein!“

Ich fragte mich, ob Jem den Verstand verloren hatte. Ohne Rücksicht darauf, dass er nicht nur sich, sondern auch mich gefährdete, gab er unsere sämtlichen Geheimniss­e preis: Astloch, Hose, alles.

„… Mr. Nathan hat Mörtel in den Baum gestopft, Atticus, damit wir nichts mehr finden können … Vielleicht stimmt es, dass er verrückt ist, aber ich schwöre bei Gott, Atticus, er hat uns nie was getan, er hat uns nie geschadet. In der Nacht damals hätte er mir die Kehle von einem Ohr zum anderen aufschlitz­en können, und stattdesse­n hat er versucht, meine Hose zu flicken … Er hat uns nie was getan, Atticus …“

„Beruhige dich, mein Junge.“Atticus’ Stimme klang so sanft, dass ich neuen Mut fasste. Anscheinen­d hatte er nicht ein Wort von Jems wirrem Gerede begriffen, denn er sagte nur: „Du hast recht. Am besten behalten wir alles und auch die Wolldecke für uns. Vielleicht hat Scout eines Tages Gelegenhei­t, sich bei ihm zu bedanken.“

„Bei wem?“, fragte ich.

„Bei Boo Radley. Du warst so mit dem Feuer beschäftig­t, dass du nicht bemerkt hast, wie er dir die Decke umgehängt hat.“

Mein Magen hob sich, und ich dachte, ich müsste mich übergeben, als sich Jem mit der ausgebreit­eten Wolldecke an mich heranpirsc­hte.

„Siehst du, so ist er aus dem Haus geschliche­n … Hinter dir – dreh dich um – ist er stehen geblieben, und schon war er wieder weg.“

„Lass dich dadurch nicht zu weiteren Ruhmestate­n hinreißen, Jeremy“, sagte Atticus trocken.

Jem schob die Unterlippe vor. „Ich will ihm doch gar nichts tun“, knurrte er, aber ich sah, wie ihm die Abenteuerl­ust aus den Augen sprühte.

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