Fragile Allianz
Bereits vor seinem Auftakt am Mittwoch verdient der NATO-Gipfel in Madrid das Prädikat „historisch“. Denn die Türkei hat ihre Blockade aufgegeben, sodass einem raschen Beitritt Finnlands und Schwedens in das nordatlantische Verteidigungsbündnis nichts mehr im Weg steht. Die Norderweiterung, verursacht durch Russlands brutalen Angriffskrieg auf die Ukraine, ist eine Zeitenwende für die Allianz, die in den letzten Jahren mal als „obsolet“, mal als „hirntot“bezeichnet wurde. Und doch ist die NATO ein Koloss auf tönernen Füßen.
Es läuft im Moment nicht gut für Wladimir Putin. Russlands Präsident hat sich im Krieg gegen sein angebliches Brudervolk arg verkalkuliert. Seine anfänglichen Ziele einer raschen Einnahme der Ukraine sind kläglich gescheitert. Russland hat sich mittlerweile als Militärmacht entzaubert. Ferner hat der Mann im Kreml den Westen geeint und insbesondere der NATO neues Leben eingehaucht.
Nicht nur die Stärkung der verletzlichen Ostflanke und ein neues strategisches Konzept sind beschlossene Sache, auch wird sich die Landgrenze zu Russland dank Finnlands Beitritt mit einem Mal verdoppeln. Ein herber Rückschlag für Putin, der weniger NATO wollte und nun mehr NATO vor seiner Haustür bekommt. Darüber hinaus verfügen sowohl Schweden als auch Finnland über leistungsfähige Armeen, und – was für Moskau besonders schmerzhaft ist – die Ostsee wird fortan zum NATO-Binnenmeer, was der Sicherheit des Baltikums zugutekommt.
Doch zum Jubeln ist es noch zu früh. Einerseits nehmen Putins Soldaten langsam, aber sicher ukrainisches Territorium ein. Putin hat seinen Zielen, nämlich der Vernichtung seines Nachbarlandes und der Wiederherstellung des sowjetischen Imperiums, keinesfalls abgeschworen – und dabei sollte man ihn ernst nehmen. Andererseits hat das Gerangel mit der Türkei um die Norderweiterung gezeigt, wie fragil die Allianz ist. Alle wichtigen Entscheidungen fallen im Nordatlantikrat, die dort getroffenen Beschlüsse müssen einstimmig sein. Dieses Prinzip nutzte der Autokrat Recep Tayyip Erdogan skrupellos aus, um wieder einmal den starken Mann zu markieren und innenpolitisch im Vorfeld der 2023 anstehenden Wahlen zu punkten.
Und die Erinnerungen an US-Präsident Donald Trump und dessen Drohungen und Erpressungsversuche dürften den Alliierten heute noch in den Knochen sitzen. Mit Joe Biden ist glücklicherweise ein besonnener Mann im Weißen Haus, der den Ernst der Stunde für den europäischen Kontinent erkannt hat. Aber irgendwann wird er sich dem aufsteigenden Hegemon China zuwenden wollen. Und wenn es wirklich schlecht läuft, dann wird Biden 2024 von Trump oder einem seiner Gesinnungsgenossen abgelöst – mit Folgen, die man sich lieber nicht ausmalen möchte ...
Dies hat auch Putin erkannt. Und er hat Zeit. Gestern und heute wird in Madrid – zu Recht – gefeiert. Doch es bleibt zu hoffen, dass es nicht früher oder später Grund für Katerstimmung gibt.
Die NATO hat zurzeit allen Grund zum Feiern. Doch das muss nicht so bleiben.
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