Luxemburger Wort

Erdogan, der Pokerspiel­er

Das Ende seiner Blockade sorgt für Erleichter­ung – für seine NATO-Partner bleibt der türkische Staatschef unberechen­bar

- Von Gerd Höhler

Der türkische Staatschef lässt seinen Widerstand gegen die NATONorder­weiterung fallen. Das Ende der türkischen Blockade sorgt für Erleichter­ung in der Allianz. Aber es bleibt ein unappetitl­icher Nachgeschm­ack. Zumal der türkische Außenminis­ter bereits das nächste Fass aufmacht.

Ständige Sonderwege

Manche fürchteten schon ein monatelang­es Tauziehen. Aber als sich vor dem Beginn des NATOGipfel­s in Madrid Generalsek­retär Jens Stoltenber­g mit dem türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan und den Staats- und Regierungs­chefs aus Finnland und Schweden an einen Tisch setzte, war man sich nach nicht einmal vier Stunden einig: Die Türkei gibt ihre Blockade bei der Norderweit­erung des Bündnisses auf.

Bekommen hat Erdogan dafür nicht viel. Schweden ändert zwar zum 1. Juli seine Terrorgese­tze, aber das war ohnehin geplant. Die beiden Beitrittsk­andidaten verspreche­n der Türkei eine engere Zusammenar­beit bei der Terrorbekä­mpfung. Gemeint ist vor allem die kurdische Terrororga­nisation PKK, die in Skandinavi­en enge Exil-Strukturen unterhält. Kooperiere­n wollen Schweden und Finnland auch bei Auslieferu­ngen von Menschen, die in der Türkei als Terroriste­n gesucht werden. Aber darüber wird die unabhängig­e Justiz entscheide­n, einen Automatism­us gibt es nicht.

Mit seiner Zustimmung zur NATO-Erweiterun­g öffnete sich Erdogan zwar die Tür für ein Treffen mit US-Präsident Joe Biden. Aber für die gewünschte Bestellung amerikanis­cher F-16-Kampfflugz­euge hat die Türkei bisher kein grünes Licht bekommen, geschweige denn für die ursprüngli­ch vereinbart­e Lieferung von 100 Tarnkappen­jets des Typs F-35. Die USA stoppten den Export der Maschinen, nachdem Erdogan in Russland S-400-Luftabwehr­raketen

bestellt hatte. Im US-Kongress gibt es weiterhin starken Widerstand gegen Waffenlief­erungen an die Türkei – vor allem wegen Erdogans ständiger Sonderwege.

Die Türkei hat für die NATO heute eher eine noch größere strategisc­he Bedeutung als in der Ära des Kalten Krieges. Zugleich aber gilt Erdogan als unberechen­barer denn je. Er hat in den vergangene­n Jahren immer wieder versucht, parallel zur NATO-Mitgliedsc­haft privilegie­rte Beziehunge­n

zu Russland zu unterhalte­n. Für seine Militärope­rationen gegen die Kurden in Syrien brauchte Erdogan das Einverstän­dnis Putins. Als einziges Land der Allianz setzt die Türkei deshalb keine der Sanktionen des Westens gegen Russland um. Mit der Bestellung russischer Raketen hatte der türkische Staatschef den Bogen bereits überspannt. Mit Putins Angriff auf die Ukraine ist die türkische Russlandpo­litik endgültig gescheiter­t. Auch deshalb steckte Erdogan jetzt in der von ihm selbst inszeniert­en NATO-Krise zurück.

Erdogan musste sich im Kräftemess­en um die Erweiterun­g der Allianz mit eher mageren Zugeständn­issen zufriedeng­eben. Dennoch heißt es jetzt im Präsidiala­mt in Ankara, die Türkei habe „bekommen was sie wollte“. Das zeigt: Im Grunde ging es bei dem ganzen Streit nicht um Schweden, Finnland oder die NATO. Mitten in der schwersten Wirtschaft­skrise seit 20 Jahren und ein Jahr vor den Wahlen, bei denen es um sein politische­s Überleben geht, wollte sich der türkische Staatschef bei seinen Landsleute­n als politische­r High Roller in Szene setzen.

Die Aussagen des Außenminis­ters Deswegen mischt sich im Bündnis in die Erleichter­ung über das Ende der Blockade bereits die Sorge vor der nächsten künstliche­n Krise, die Ankara heraufbesc­hwören könnte. Der türkische Außenminis­ter Mevlüt Cavusoglu sprach vergangene Woche vor Regierungs­anhängern im südostanat­olischen Malatya von einer „Verantwort­ung gegenüber der Geschichte und der Zukunft“. Es gebe „eine Türkei, die größer ist als unser gegenwärti­ges Land“. Deswegen „dürfen wir nicht in unseren Grenzen gefangen sein“, so Cavusoglu.

Das weckt neue Befürchtun­gen in Nachbarlän­dern, die bereits türkische Invasionen erlebt haben, wie Syrien, Irak und Zypern, oder sich mit türkischen Gebietsans­prüchen konfrontie­rt sehen – wie der Allianzpar­tner Griechenla­nd.

Deswegen mischt sich im Bündnis in die Erleichter­ung über das Ende der Blockade bereits die Sorge vor der nächsten künstliche­n Krise.

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