Die Kunst entdeckt das Alltagsleben
Ein Jahrhundert realistischer Malerei im Wiener Schloss Belvedere
Lange Zeit hat die bildende Kunst die Vielfalt der Menschheit ausgeblendet und sich fast ausschließlich dem Leben der Reichen, Mächtigen und Schönen gewidmet. Historie, Mythologie und Bibel lieferten die wesentlichen Themen, porträtiert wurden vorwiegend Personen von hohem Stand oder besonderer Bedeutung. Die Ausstellung „Lebensnah – Realistische Malerei von 1850 bis 1950“im Oberen Schloss Belvedere in Wien nimmt sich einer Epoche an, in der neue Wege beschritten werden. Die Künstler des Realismus richten ihren Blick auf Individuen jeglichen Standes und widmen sich mit größerem Interesse als früher und ohne Idealisierungen auch der Lage von Menschen in den unteren sozialen Schichten. Dabei stellen sie Szenen dar, die nicht nur ein Bild der Wirklichkeit bieten, sondern auch einen Anstoß zu sozialer Veränderung geben sollen.
Kuratorin Kerstin Jesse erklärt: „Das Einfache, Banale oder scheinbar Unscheinbare wurde im Realismus darstellungswürdig.“Ihr Kurator-Kollege Franz Smola ergänzt: „Mit der Malerei des Realismus tauchen wir ein in eine vergangene Zeit, die uns dennoch überraschend nahe scheint. Dies liegt daran, dass diese Stilrichtung oft als Spiegel des Alltags und der sozialen Umwelt eingesetzt wurde.“
Die mehr als 80 ausgestellten Objekte stammen durchwegs aus den Beständen des Belvedere und aus unterschiedlichen Zeiträumen der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Gemeinsam ist ihnen, dass sie meist eine anspruchsvolle und präzise Maltechnik aufweisen und sich tiefgründig und oft kritisch mit der Lebenswirklichkeit der Menschen ihrer Zeit auseinandersetzen.
Geprägt hat den Begriff Realismus der französische Maler Gustave Courbet. Im Jahr 1855 präsentiert er im Rahmen der Weltausstellung in Paris in einem eigenen Gebäude seine Werke unter dem Titel „Le Réalisme“. Ohne die bis dahin übliche beschönigende Ästhetik stellt er möglichst lebensnah vorwiegend unkonventionelle Motive dar. Der „Réalisme“kann sich in den folgenden Jahren als eigene Stilrichtung durchsetzen und auf die gesamte europäische und amerikanische Malerei ausstrahlen, wobei auch der Einfluss der damals noch jungen Fotografie eine große Rolle spielt.
Der erste Teil der Ausstellung will „Gesichter der Gesellschaft“und „Das echte Leben“zeigen. Der namhafte Schweizer Maler Arnold Böcklin (1827-1901) ist mit dem Porträt eines Künstlerkollegen, „Der Maler Franz von Lenbach“(1862), vertreten. In Spanien gehörte der aus dem Baskenland stammende Ignacio Zuloaga
(1870-1945) zu den bekanntesten Porträtisten seiner Zeit. Im Bild „Der Volksdichter Don Miguel von Segovia“(um 1900) hält er eine sonst unbekannte lokale Größe fest und verleiht diesem Mann den klischeehaften Habitus eines Literaten. Ins Auge springt auch „Das lila Staatskleid. Frau von Birkenreuth“(1891) das großformatige Porträt einer prächtig gekleideten Dame, die selbstbewusst dem Wiener Maler Karl Mediz (1868-1945) gegenüber sitzt. Ein Highlight der Schau ist das erstmals gezeigte Bildnis „Mathilde Trau“(um 1893) des damals noch realistisch malenden Gustav Klimt (1862-1918), ein Gemälde, das sich seit 2019 als Dauerleihgabe in der hauseigenen Sammlung befindet.
Privates und Sozialkritik
Der Realismus gibt Einblicke in private Wohnbereiche, in familiäre und alltägliche Situationen in der Stadt und auf dem Land. So ästhetisch manche dieser Bilder ausgeführt sind, sie führen auch Themen wie Not, Armut und Kinderarbeit sehr deutlich vor Augen. „Zur Schule“(1883) heißt ein Gemälde von Edmund Krenn (1846-1902), auf dem zwei große Mädchen, beide barfuß, eines mit Regenschirm, einen kleinen Knaben mit Schulmappe auf einem nassen, erdigen Weg begleiten. Anton Filkuka (1888-1957) aus Wien stellt sehr anschaulich „Holzsammelnde Kinder“(1925) dar.
Karl Karger (1848-1913), einer der etablierten Maler der Wiener Ringstraßenzeit, der in Wien monumentale Deckenbilder für das Burgtheater und das Kunsthistorische Museum schuf, wirft einen realistischen Blick auf das bunte Treiben in einer Bahnhofshalle: „Ankunft eines Zuges am Nordwestbahnhof in Wien“(1921).
Ein Hauptvertreter des Realismus, Wilhelm Leibl (1844-1900), berühmt für seine Bilder aus dem ländlichen Leben, hält auf dem Gemälde „Kopf eines Bauernmädchens“(um 1880), ursprünglich ein Teil des größeren Werkes „Das Mädchen mit der Nelke“, präzise eine typisch bayerische Tracht fest.
„Die Welt erfassen“ist ein Ziel der realistischen Künstler, die sich auch der Landschaftsmalerei widmen, wie zum Beispiel Theodor von Hörmann, der 1892 notiert: „Und staunend wird man einmal fragen, wie es kam, dass die Maler im 19. Jahrhundert die Natur so sehen lernten, wie sie wirklich ist.“Die häufig sozialkritische Literatur im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert mit ihren aus dem alltäglichen Leben gegriffenen Inhalten wird zwar mehr im Medium Film als in der Malerei ins Bild gerückt, aber auch den realistischen Malern geht es nicht nur um die Natur, sondern auch um den Transport sozialer Anliegen. Da werden einerseits kleinformatig Eisschollen am Ufer des Flusses Thaya dargestellt, anderseits die vom Menschen gestaltete Umwelt, vor allem die wachsenden Städte und die Anonymität und andere negative Entwicklungen des urbanen Lebens. So lässt uns zum Beispiel der in Graz geborene Künstler Erich Miller-Hauenfels (1889-1972) in einen nicht gerade malerischen „Hof zwischen Großstadthäusern“(1934) blicken.
Rückzug, Stille und Ruhe
Auch „Rückzug und Reflexion“sind Kennzeichen vieler realistischer Werke, beispielsweise
die selbstvergessene Vertiefung in Lektüre oder die Sehnsucht nach Stille, wie sie zum Beispiel im „Stillleben“(1926) von Herbert Ploberger (1902-1977) spürbar ist oder im Ölbild „Lesender Mann“(1905) von Emanuel Baschny (18761932), einem zu seiner Zeit erfolgreichen realistischen Wiener Maler, der heute kaum noch Beachtung findet. Um Ruhe und Betrachtung geht es in einem Werk, das in einer sehr unruhigen Zeit entstanden ist: „Im Museum“(1939) von August Eduard Wenzel (1895-1971) aus Reichenau im heutigen Tschechien.
Stille und Frieden vermittelt auch der schon 1854 entstandene „Blick auf den Klosterhof im Winter“vom gebürtigen Berliner Karl Georg Adolph Hasenpflug (1802-1858), das Bild wirkt durch den aufgerissenen Boden und die dünne, Kälte vermittelnde Schneedecke zugleich beschaulich und verstörend, wie Realität eben sein kann.
Auf Stillleben spezialisiert war die Wiener Malerin Camilla Friedländer Edle von Malheim (1856-1928), die mit dem undatierten Werk „Orientalischer Hausrat“vertreten ist. Motive aus dem Orient waren gegen Ende des 19. Jahrhunderts sehr beliebt, in dieses Genre fällt auch die „Orientalin“(um 1875) von Edouard Frédéric Wilhelm Richter (1844-1913) aus Paris.
Vom Bologneser Maler und Grafiker Giorgio Morandi (1890-1964) wird in der Ausstellung der schöne, den Realismus relativierende Satz zitiert: „Wir wissen, dass alles, was wir Menschen von der dinglichen Welt wahrnehmen, niemals wirklich so ist, wie wir es sehen oder verstehen.“
Das Eintauchen in „Arbeitswelten“gehört zu den wichtigsten Motiven realistischer Malerei. Gustave Courbet stößt 1850 mit seinem Gemälde „Die Steinklopfer“, das die harte Wirklichkeit der Arbeit in einem Steinbruch darstellt, beim konservativen Publikum auf Ablehnung. Der harte Alltag der Erwerbsarbeit fand aber vor allem Eingang in die Literatur dieser Zeit, zum Teil mit einer sehr positiven Haltung zum Fortschritt der Technik und zu entsprechenden Verheißungen für die Zukunft.
Die „Heimkehr von der Arbeit (Die Liebenden am Scheideweg)“(1861) sieht auf dem Ölgemälde von Ferdinand Georg Waldmüller (1793-1865), dessen Werk in erster Linie in das Biedermeier fällt, gegen Ende aber zunehmend realistisch wird, noch recht idyllisch aus. Der Wiener Maler Franz Eybl (1806-1880) lässt detailreich und stimmungsvoll, aber ohne die zu erwartenden von Ruß geschwärzten Wände, in „Das Innere einer Schmiede“(1847) blicken. Bei dem aus Mähren stammenden Hugo Charlemont (1850-1939) sieht das „Interieur einer Hammerschmiede“(1883), das reizvoll mit dem Licht spielt, deutlicher nach Arbeit aus.
Zum Bild des fleißigen Handwerkers kommt jenes des selbstbewussten Industriearbeiters hinzu. In diesem Bereich finden sich die einzigen Plastiken der Schau. Der Bildhauer Constantin Emile Meunier (1831-1905), der im Raum Brüssel lebte, würdigt mit seinem sich in Pose werfenden „Schiffslöscher“(1893) den Hafenarbeiter und mit seiner Bronzebüste „Puddler“(1894/1895) den Arbeiter im Stahlwerk.
Die Tätigkeit mancher Berufsgruppen, ob als Knechte und Mägde in der Landwirtschaft oder als Dienstboten in Haushalten, wird lange Zeit künstlerisch kaum dargestellt. Die lächelnde „Frau mit Melone“(1933), die der Wiener Maler Udo Weith (1897-1935) vor einer hellen Holzwand abbildet, ist ein konturenreiches Beispiel für den Bereich „Die unsichtbare Arbeit“.
Für alle, die sich im Oberen Belvedere durch eine Ausstellung bewegen, lohnt es sich immer, zwischendurch aus dem Fenster die grandiose Aussicht über den Schlosspark auf das Stadtzentrum zu genießen. Bisher ist es der Wiener Zivilgesellschaft immer wieder gelungen, in Planung befindliche Bauprojekte zu verhindern, deren Höhe diesen Blick empfindlich beeinträchtigen würde.
Zu den originellen Bildern der Schau „Lebensnah“, die wohl so manchem Besucher noch eine Weile in Erinnerung bleiben werden, gehört sicher „Caesar am Rubicon“(um 1878) von Wilhelm Trübner (1851-1917) aus Heidelberg: Ein Hund starrt gebannt auf eine Wurst und zerrt bereits am Tischtuch, um den Teller, auf dem sie liegt, zu sich zu ziehen.
Eine feinfühlige Studie menschlicher Gesichter bietet das Werk „Die Weinenden“(um 1895) des belgischen Künstlers Jef Leempoels (1867-1935).
„Wie für die große Leinwand“ist der letzte Teil der Ausstellung übertitelt, der dramatische Ereignisse zu zeigen verspricht. Den größten Effekt erzielt hier die „Wettfahrt betrunkener slowakischer Bauern“(1869) von Julius von Blaas dem Älteren (1845-1922: Junge Männer rasen mit Pferdfuhrwerken in einer unheilvoll wirkenden abendlichen Stimmung über die Landstraße, schwingen die Peitschen, zwei rufen einander etwas zu.
Lebensnah, Realistische Malerei von 1850 bis 1950, Oberes Belvedere, Wien, bis 1. November 2022
Sergius Pauser, Luis Trenker mit Kamera, 1938, Belvedere, Wien.
Selbstbewusste Arbeiter
Das Einfache, Banale oder scheinbar Unscheinbare wurde im Realismus darstellungswürdig. Ausstellungskuratorin Kerstin Jesse