Warum alle jetzt mal wieder runterkommen müssen
Polemik mal ausgeklammert kann Kunst auch entspannend sein – ein Spaziergang über die documenta fifteen in Kassel
Anfänglich von der hysterischen Mediendebatte über Antisemitismus in den Schatten gestellt, bietet die aktuelle documenta in Kassel weit mehr Attraktionen und viel Interessanteres als fragwürdige Polit-Karikaturen und dubiose palästinensische Künstlergruppen.
Bereits ein kurzer Spaziergang in der Kasseler Innenstadt zeigt deutlich die soziale und ökologische Ausrichtung der Schau mit ihren zahlreichen Kunstobjekten und Treffpunkten im öffentlichen Raum, die auch ohne Ticket zugänglich sind. Allein im historischen Park der Karlsaue, rund um das Gartenschloss der Orangerie und am Flussufer der Fulda, kann man einen ganzen Tag verbringen, ohne sich zu langweilen – im Gegenteil, es gelingt spielend, die Balance zwischen Entspannung und geistiger Anregung zu halten. Empfehlenswert ist ein Gang vom Flussufer der Fulda in die Stadtmitte, zum Friedrichsplatz.
Auf dem Gelände des ehemaligen AhoiBootshaus am Ufer der Fulda hat die documenta einen lauschigen Biergarten und mehrere Kunstinstallationen errichtet. So baute die Spanische Gruppe „Recetas Urbanas“mit Kasseler Grundschulkindern eine Brücke samt Aussichtsplattform über das ehemalige Bootshaus.
Im Innenraum des Hauses präsentiert die „Off-Biennale Budapest“diverse Kunstwerke. Inspiriert worden waren die Spanier von dem historischen Projekt der Kinderrepublik „Gaudiopolis“des lutherischen Pfarrers Gabor Sztehlo im Jahr 1949. Das Material, u. a. alte Schultische, stammte aus einem eigens angelegten Recyclinglager der documenta. Die Brücke soll später als Klettergerüst für eine benachbarte Schule gespendet werden.
Am nahen Flussufer sind zwei schwimmende Gärten der slowakischen Künstlerin Ilona Nemeth
vertäut, ein Heilkräutergarten und der „Future Garden“, der die Erde von Giften reinigen und zudem Klimawandelresistent sein soll. Über die filigrane Drahtbrücke gelangt man zum anderen Ufer der Fulda, trifft dort zunächst auf ein Relikt einer vergangenen documenta: Eine riesige, im Boden steckende Spitzhacke von Claes Oldenbourg, Baujahr 1982.
Ein paar Schritte weiter sind diverse hölzerne Bauten und Veranstaltungsräume der NonProfit-Kulturstiftung „Más Arte Más Acción“aus Kolumbien zu sehen, darunter das Werk „Excrementus Megalomanus“, das wie eine säulenartige abstrakte Plastik aussieht. Es handelt sich aber um eine Komposttoilette ohne Wasserzufuhr, dafür mit Spuckbecken und Urinalen im Außenbereich, während die Toilettenschüssel verdeckt im Turm installiert wurde.
Stichwort Kompost: Auch die Totholz- und Kompost-Lagerstätte der Parkverwaltung wurde zum documenta-Standort: Ein romantisches
„Excrementus Megalomanus“
und vielfältiges Biotop, in dessen Mitte die Gruppe „Quartett la Intermundial Holobiente“ihr Hauptquartier aufgeschlagen hat, einen Raum zum Lesen, Schreiben, Diskutieren.
Schon von weitem sieht man auf der Karlswiese eine Installation aus Müll: Gepresste Würfel aus Kunststoff und Stoffresten. Daneben steht ein Pavillon aus Stoffballen, die zum Recycling in Afrika oder Asien bestimmt waren. Das Projekt „The Nest Collective“aus Kenia setzt sich hier kritisch mit der globalen Textilund Abfallwirtschaft auseinander.
Ein paar Schritte bergauf hat man sich eine Pause verdient und trifft zum Glück neben der documenta-Halle einen Rastplatz an. Das alternative Künstler- und Bildungskollektiv „Britto Arts Trust“aus Dhaka hat dort ein OpenAir-Areal mit Bar, Gemüseanbau und sozialem Treffpunkt eingerichtet. In der Halle präsentiert die Gruppe einen kompletten Supermarkt mit Keramik-Imitationen von Lebensmitteln. Der Eingang der nahegelegenen documentaHalle bietet Kasselkennern ein ungewohntes Bild: Das kenianische „Wajukuu Art Project“hat Eingang und Teile des Gebäudes im Stil der Slum-Architektur umgestaltet, mit rostigem Wellblech und Abfallholz. Die Halle lässt sich nur noch durch einen langen dunklen Korridor betreten, der in eine andere Welt zu führen scheint. Das Wajukuu Art Project ist seit 2004 in dem Mukuru-Slum in Nairobi tätig, und hat dort eine Bibliothek, Kunst- und Musikprojekte sowie weitere Bildungsangebote realisiert.
Angelangt am Friedrichsplatz, dem Herzstück der documenta, wird man mit zahlreichen buntbemalten lebensgroßen Pappfiguren konfrontiert, die die indonesische Gruppe „Taring Padi“nach Kassel importiert hat. Seit 25 Jahren ist diese Protestbewegung aktiv, wobei es verschiedene Themen und politische Positionen gibt: sozial, ökologisch, demokratisch orientiert, z. T. aber auch kommunistisch und durchaus antiamerikanisch.
Eines ihrer Großgemälde wurde zu Beginn der documenta wegen antisemitischer Karikaturen nach Protesten entfernt. Die Gruppe hatte 1 000 bemalte Figuren-Pappschilder nach Kassel bringen lassen, die bei Demonstrationen und Protestaktionen in Indonesien mitgeführt wurden. An vielen Orten Kassels sind sie zusammen mit großen bunten Bannern und Fassadenplakaten zu sehen. Dass Sonne, Wind und Regen ihnen zusetzen, ist nach Ansicht der Künstler kein Problem, sondern der natürliche Lauf der Dinge.
Ein kurzer Spaziergang in der Kasseler Innenstadt zeigt deutlich die soziale und ökologische Ausrichtung der Schau mit ihren zahlreichen Kunstobjekten und Treffpunkten im öffentlichen Raum.
Die documenta 15 in Kassel geht bis 25. September.