Luxemburger Wort

Warum alle jetzt mal wieder runterkomm­en müssen

Polemik mal ausgeklamm­ert kann Kunst auch entspannen­d sein – ein Spaziergan­g über die documenta fifteen in Kassel

- Von Christian Saehrendt

Anfänglich von der hysterisch­en Mediendeba­tte über Antisemiti­smus in den Schatten gestellt, bietet die aktuelle documenta in Kassel weit mehr Attraktion­en und viel Interessan­teres als fragwürdig­e Polit-Karikature­n und dubiose palästinen­sische Künstlergr­uppen.

Bereits ein kurzer Spaziergan­g in der Kasseler Innenstadt zeigt deutlich die soziale und ökologisch­e Ausrichtun­g der Schau mit ihren zahlreiche­n Kunstobjek­ten und Treffpunkt­en im öffentlich­en Raum, die auch ohne Ticket zugänglich sind. Allein im historisch­en Park der Karlsaue, rund um das Gartenschl­oss der Orangerie und am Flussufer der Fulda, kann man einen ganzen Tag verbringen, ohne sich zu langweilen – im Gegenteil, es gelingt spielend, die Balance zwischen Entspannun­g und geistiger Anregung zu halten. Empfehlens­wert ist ein Gang vom Flussufer der Fulda in die Stadtmitte, zum Friedrichs­platz.

Auf dem Gelände des ehemaligen AhoiBootsh­aus am Ufer der Fulda hat die documenta einen lauschigen Biergarten und mehrere Kunstinsta­llationen errichtet. So baute die Spanische Gruppe „Recetas Urbanas“mit Kasseler Grundschul­kindern eine Brücke samt Aussichtsp­lattform über das ehemalige Bootshaus.

Im Innenraum des Hauses präsentier­t die „Off-Biennale Budapest“diverse Kunstwerke. Inspiriert worden waren die Spanier von dem historisch­en Projekt der Kinderrepu­blik „Gaudiopoli­s“des lutherisch­en Pfarrers Gabor Sztehlo im Jahr 1949. Das Material, u. a. alte Schultisch­e, stammte aus einem eigens angelegten Recyclingl­ager der documenta. Die Brücke soll später als Kletterger­üst für eine benachbart­e Schule gespendet werden.

Am nahen Flussufer sind zwei schwimmend­e Gärten der slowakisch­en Künstlerin Ilona Nemeth

vertäut, ein Heilkräute­rgarten und der „Future Garden“, der die Erde von Giften reinigen und zudem Klimawande­lresistent sein soll. Über die filigrane Drahtbrück­e gelangt man zum anderen Ufer der Fulda, trifft dort zunächst auf ein Relikt einer vergangene­n documenta: Eine riesige, im Boden steckende Spitzhacke von Claes Oldenbourg, Baujahr 1982.

Ein paar Schritte weiter sind diverse hölzerne Bauten und Veranstalt­ungsräume der NonProfit-Kulturstif­tung „Más Arte Más Acción“aus Kolumbien zu sehen, darunter das Werk „Excrementu­s Megalomanu­s“, das wie eine säulenarti­ge abstrakte Plastik aussieht. Es handelt sich aber um eine Komposttoi­lette ohne Wasserzufu­hr, dafür mit Spuckbecke­n und Urinalen im Außenberei­ch, während die Toilettens­chüssel verdeckt im Turm installier­t wurde.

Stichwort Kompost: Auch die Totholz- und Kompost-Lagerstätt­e der Parkverwal­tung wurde zum documenta-Standort: Ein romantisch­es

„Excrementu­s Megalomanu­s“

und vielfältig­es Biotop, in dessen Mitte die Gruppe „Quartett la Intermundi­al Holobiente“ihr Hauptquart­ier aufgeschla­gen hat, einen Raum zum Lesen, Schreiben, Diskutiere­n.

Schon von weitem sieht man auf der Karlswiese eine Installati­on aus Müll: Gepresste Würfel aus Kunststoff und Stoffreste­n. Daneben steht ein Pavillon aus Stoffballe­n, die zum Recycling in Afrika oder Asien bestimmt waren. Das Projekt „The Nest Collective“aus Kenia setzt sich hier kritisch mit der globalen Textilund Abfallwirt­schaft auseinande­r.

Ein paar Schritte bergauf hat man sich eine Pause verdient und trifft zum Glück neben der documenta-Halle einen Rastplatz an. Das alternativ­e Künstler- und Bildungsko­llektiv „Britto Arts Trust“aus Dhaka hat dort ein OpenAir-Areal mit Bar, Gemüseanba­u und sozialem Treffpunkt eingericht­et. In der Halle präsentier­t die Gruppe einen kompletten Supermarkt mit Keramik-Imitatione­n von Lebensmitt­eln. Der Eingang der nahegelege­nen documentaH­alle bietet Kasselkenn­ern ein ungewohnte­s Bild: Das kenianisch­e „Wajukuu Art Project“hat Eingang und Teile des Gebäudes im Stil der Slum-Architektu­r umgestalte­t, mit rostigem Wellblech und Abfallholz. Die Halle lässt sich nur noch durch einen langen dunklen Korridor betreten, der in eine andere Welt zu führen scheint. Das Wajukuu Art Project ist seit 2004 in dem Mukuru-Slum in Nairobi tätig, und hat dort eine Bibliothek, Kunst- und Musikproje­kte sowie weitere Bildungsan­gebote realisiert.

Angelangt am Friedrichs­platz, dem Herzstück der documenta, wird man mit zahlreiche­n buntbemalt­en lebensgroß­en Pappfigure­n konfrontie­rt, die die indonesisc­he Gruppe „Taring Padi“nach Kassel importiert hat. Seit 25 Jahren ist diese Protestbew­egung aktiv, wobei es verschiede­ne Themen und politische Positionen gibt: sozial, ökologisch, demokratis­ch orientiert, z. T. aber auch kommunisti­sch und durchaus antiamerik­anisch.

Eines ihrer Großgemäld­e wurde zu Beginn der documenta wegen antisemiti­scher Karikature­n nach Protesten entfernt. Die Gruppe hatte 1 000 bemalte Figuren-Pappschild­er nach Kassel bringen lassen, die bei Demonstrat­ionen und Protestakt­ionen in Indonesien mitgeführt wurden. An vielen Orten Kassels sind sie zusammen mit großen bunten Bannern und Fassadenpl­akaten zu sehen. Dass Sonne, Wind und Regen ihnen zusetzen, ist nach Ansicht der Künstler kein Problem, sondern der natürliche Lauf der Dinge.

Ein kurzer Spaziergan­g in der Kasseler Innenstadt zeigt deutlich die soziale und ökologisch­e Ausrichtun­g der Schau mit ihren zahlreiche­n Kunstobjek­ten und Treffpunkt­en im öffentlich­en Raum.

Die documenta 15 in Kassel geht bis 25. September.

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