Luxemburger Wort

Kunst und Aktivismus

- Von Christian Saehrendt

Kommentar

Die Debatte ist mittlerwei­le vollkommen hysterisch. Es wird der Rücktritt der documenta-Leitung gefordert, mehr staatlich-ideologisc­he Kontrolle der documenta verlangt, gar das Ende der documenta heraufbesc­hworen. Und nun hat auch der große Kunstkriti­ker Olaf Scholz seinen Besuch abgesagt!

Identitäts­politische Extremiste­n und chronisch Beleidigte gibt es auf allen Seiten. Während eine sogenannte „antideutsc­he“politische Strömung (ursprüngli­ch aus dem linksextre­men Spektrum) überall Antisemite­n am Werk sieht und Israels Politik stets bejubelt, vermischt die andere Seite Religionsk­ritik mit Rassismus und fabuliert von einem endemische­n „antimuslim­ischen Rassismus“des Westens.

Erstmalig gibt es ein muslimisch­es Kuratorent­eam, und erstmalig wird massiv in die künstleris­che Konzeption der documenta eingegriff­en – das wird zukünftige KuratorenK­andidaten aus dem Globalen Süden abschrecke­n und das ist Wasser auf die Mühlen derer, die von einem strukturel­len antimuslim­ischen Rassismus des Westens schwafeln und zugleich derer, die von der angebliche­n übergroßen Macht des Judentums fabulieren.

Allerdings war von Anfang an klar, dass ein muslimisch sozialisie­rtes Kuratorent­eam eine andere Sicht auf das globale politische Geschehen hat, vor allem hinsichtli­ch der Konfliktre­gionen und ehemaligen Kolonialge­biete. Dort herrschen andere Werte und Player, die für ein „biodeutsch­es“Kuratorent­eam hochproble­matisch wären. Man kann aber nicht Weltoffenh­eit spielen und Kuratoren aus dem Globalen Süden einladen, und dann nicht sehen wollen, was sie mitbringen. Man muss die Konfrontat­ion damit aushalten und offensiv darüber diskutiere­n, problemati­sche Werke in der Ausstellun­g kenntlich machen und kommentier­en, statt verschwind­en zu lassen.

Die Hauptaussa­ge der Kuratoren und der verantwort­lichen Künstlergr­uppe ist keineswegs antisemiti­sch. Die Gruppe Taring Padi ist seit 25 Jahren als Protestbew­egung in Indonesien aktiv, ein heterogene­s Sammelbeck­en, sozial, ökologisch, demokratis­ch, z. T. auch kommunisti­sch und antiamerik­anisch orientiert. Die Gruppe ließ große Wandbilder und 1 000 bemalte Figuren-Pappschild­er nach Kassel bringen, welche bei Demonstrat­ionen und Protestakt­ionen in Indonesien mitgeführt wurden. Man darf also nicht die Relationen verkennen und aus einer Mücke den Elefanten machen. Zwei Figuren von Hundert auf einem RiesenWimm­elbild sind antisemiti­sche Karikature­n. Ähnliche Protestmot­ive hat man übrigens bis in die 1990er-Jahre hinein auch noch bei deutschen und westeuropä­ischen Linksextre­misten und „Anti-Imps“gesehen.

Diese documenta ist bunt und laut, sie besteht zu 50 Prozent aus Aktivismus und nur noch zu 50 Prozent aus Kunst. Der Kunstbetri­eb ist in weiten Teilen elitär geworden und wird von den starken Playern des Kunstmarkt­es dominiert. Die westlichen Großausste­llungen und Institutio­nen zeitgenöss­ischer Kunst befinden sich in einer Legitimati­onskrise. Dringend benötigt wird daher heute und in Zukunft die Nähe zu weniger privilegie­rten gesellscha­ftlichen Schichten und Weltregion­en. Die documenta wagte den Versuch. Und das ist gut so, auch wenn es manchmal knirscht und zu kontrovers­en Debatten führt.

Reist man dieser Tage nach Leeuwarden, erlebt man sein grünes Wunder. Gleich am Bahnhof wurde man – bis vor wenigen Wochen –, begrüßt von mehr als tausend Bäumen, die ein selten gehabtes Wohlfühl-Erlebnis erzeugten. Aus dem Parkplatz vor dem Gebäude wurde kurzerhand mit 800 Baumkübeln ein Bahnhofspa­rk gemacht. Überall roch es nach frischem Grün, Vögel zwitschert­en und auch Chorsänger stimmten summend auf das natürliche Ereignis ein. Inzwischen sind die Bäume, mehr als 60 verschiede­ne Arten, weitergezo­gen. Wochenweis­e werden die Bäume mit Hilfe von fünf ehrenamtli­chen Helfern pro Kübel auf einem hydraulisc­h betriebene­n Wagen an andere Orte in der Stadt verbracht. Die Bäume sind Teil eines Plans, genauer, des Arcadia-Plans. Mit der als Triennale angelegten „Arcadia“– benannt nach der gleichnami­gen utopischen Landschaft – will die Stadt ihren Europäisch­en Kulturhaup­tstadt-Status von 2018 gewisserma­ßen weiterführ­en. Damals erlebte die charmante, knapp 109 000 Einwohner zählende Metropole im nördlichst­en Zipfel der Niederland­e einen echten Hype. Tausende kamen, um sich selbst ein Bild davon zu machen, dass Friesland mehr zu bieten hat, als Kühe, Meer und plattes Land. Über 300 Ausstellun­gen, Konzerte und Veranstalt­ungen waren gelistet und schlugen am Ende mit 5,5 Millionen Besuchen zu Buche. Das

Motto „iepen mienskip“(Friesisch für „Offene Gesellscha­ft“), sollte auch in der Zeit danach noch seine Bedeutung haben. Zentraler Punkt war das gemeinsame, von unten ausgehende Arbeiten an einer besseren Welt.

Mit der jetzt aufgelegte­n, hundert Tage dauernden Arcadia erlebt iepen mienskip eine Neuauflage und zeigen ihre Macher, dass Leeuwarden auch nach 2018 in der Lage ist, viele Besucher in die friesische Provinzhau­ptstadt zu locken. Auch die „Bottom to top“-Philosophi­e kommt bei dem zehn Millionen Euro-Event, das sechzig Veranstalt­ungen profession­eller Künstler und lokaler Akteure umfasst, zum Tragen. Der wandernde Wald („Bosk“) ist ein gutes Beispiel hierfür. Initiiert noch von Joop Mulder, dem inzwischen verstorben­en, höchst beliebten Kulturmana­ger, der 2018 auch schon für das Küsten-Projekt „Sense of Place“verantwort­lich zeichnete, wurde er von Bruno Doedens zu Ende gedacht. „Die Botschaft ist: Welche Zukunft wollen wir? Und wie können wir sie gemeinsam angehen?“, so der Kurator bei der Vorstellun­g des Projekts. „Bosk versucht, eine Idee davon zu geben. Wir haben viel mehr solcher Ideen nötig. Und dafür sind Kunst und Kultur so wichtig. Bosk will Fragen stellen. Zur gleichen Zeit aber sehen wir, dass wir es gemeinsam angehen können, wenn wir nur wollen. Schon jetzt haben sich mehr als 2 000 Menschen für das Verrücken der Bäume gemeldet“. Und weiter mit einem Augenzwink­ern: „Es ist wie mit der Elfstedent­ocht: Du kommst sehr schnell auf die Warteliste“. Damit spielt Doedens auf das begehrte nationale Eislaufere­ignis an, das durch elf friesische Städte führte. Das traditione­lle, rund 200 Kilometer lange Rennen auf zugefroren­en Kanälen und Seen fand 1997 zum letzten Mal statt – die Winter werden zu warm, die Eisdecke erreicht ihre Mindestdic­ke von 15 cm nicht mehr.

Zweifelsoh­ne ist Bosk angelehnt an die 7 000 Eichen von Joseph Beuys, die dieser zur Documenta 1982 in Kassel pflanzte und so der Stadt zu neuem Grün verhalf. „Es erinnert aber auch an den Club of Rome, der vor 50 Jahren seinen ersten Bericht herausgab“, so Doedens. „Deshalb ist es jetzt auch ein sehr guter Moment, um erneut auf unser Verhalten gegenüber der Erde aufmerksam zu machen. Es ist spät, aber nicht zu spät. Indem wir jetzt die Ärmel hochkrempe­ln, können wir immer noch gute Vorfahren sein“.

Ein zweites großes Projekt von Arcadia spielt sich im königliche­n Oranjewoud bei Heerenveen ab, 30 Kilometer südlich von Leeuwar

Gemeinsame­s Bäumerücke­n

Paradiesis­che Zustände

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