Kunst und Aktivismus
Kommentar
Die Debatte ist mittlerweile vollkommen hysterisch. Es wird der Rücktritt der documenta-Leitung gefordert, mehr staatlich-ideologische Kontrolle der documenta verlangt, gar das Ende der documenta heraufbeschworen. Und nun hat auch der große Kunstkritiker Olaf Scholz seinen Besuch abgesagt!
Identitätspolitische Extremisten und chronisch Beleidigte gibt es auf allen Seiten. Während eine sogenannte „antideutsche“politische Strömung (ursprünglich aus dem linksextremen Spektrum) überall Antisemiten am Werk sieht und Israels Politik stets bejubelt, vermischt die andere Seite Religionskritik mit Rassismus und fabuliert von einem endemischen „antimuslimischen Rassismus“des Westens.
Erstmalig gibt es ein muslimisches Kuratorenteam, und erstmalig wird massiv in die künstlerische Konzeption der documenta eingegriffen – das wird zukünftige KuratorenKandidaten aus dem Globalen Süden abschrecken und das ist Wasser auf die Mühlen derer, die von einem strukturellen antimuslimischen Rassismus des Westens schwafeln und zugleich derer, die von der angeblichen übergroßen Macht des Judentums fabulieren.
Allerdings war von Anfang an klar, dass ein muslimisch sozialisiertes Kuratorenteam eine andere Sicht auf das globale politische Geschehen hat, vor allem hinsichtlich der Konfliktregionen und ehemaligen Kolonialgebiete. Dort herrschen andere Werte und Player, die für ein „biodeutsches“Kuratorenteam hochproblematisch wären. Man kann aber nicht Weltoffenheit spielen und Kuratoren aus dem Globalen Süden einladen, und dann nicht sehen wollen, was sie mitbringen. Man muss die Konfrontation damit aushalten und offensiv darüber diskutieren, problematische Werke in der Ausstellung kenntlich machen und kommentieren, statt verschwinden zu lassen.
Die Hauptaussage der Kuratoren und der verantwortlichen Künstlergruppe ist keineswegs antisemitisch. Die Gruppe Taring Padi ist seit 25 Jahren als Protestbewegung in Indonesien aktiv, ein heterogenes Sammelbecken, sozial, ökologisch, demokratisch, z. T. auch kommunistisch und antiamerikanisch orientiert. Die Gruppe ließ große Wandbilder und 1 000 bemalte Figuren-Pappschilder nach Kassel bringen, welche bei Demonstrationen und Protestaktionen in Indonesien mitgeführt wurden. Man darf also nicht die Relationen verkennen und aus einer Mücke den Elefanten machen. Zwei Figuren von Hundert auf einem RiesenWimmelbild sind antisemitische Karikaturen. Ähnliche Protestmotive hat man übrigens bis in die 1990er-Jahre hinein auch noch bei deutschen und westeuropäischen Linksextremisten und „Anti-Imps“gesehen.
Diese documenta ist bunt und laut, sie besteht zu 50 Prozent aus Aktivismus und nur noch zu 50 Prozent aus Kunst. Der Kunstbetrieb ist in weiten Teilen elitär geworden und wird von den starken Playern des Kunstmarktes dominiert. Die westlichen Großausstellungen und Institutionen zeitgenössischer Kunst befinden sich in einer Legitimationskrise. Dringend benötigt wird daher heute und in Zukunft die Nähe zu weniger privilegierten gesellschaftlichen Schichten und Weltregionen. Die documenta wagte den Versuch. Und das ist gut so, auch wenn es manchmal knirscht und zu kontroversen Debatten führt.
Reist man dieser Tage nach Leeuwarden, erlebt man sein grünes Wunder. Gleich am Bahnhof wurde man – bis vor wenigen Wochen –, begrüßt von mehr als tausend Bäumen, die ein selten gehabtes Wohlfühl-Erlebnis erzeugten. Aus dem Parkplatz vor dem Gebäude wurde kurzerhand mit 800 Baumkübeln ein Bahnhofspark gemacht. Überall roch es nach frischem Grün, Vögel zwitscherten und auch Chorsänger stimmten summend auf das natürliche Ereignis ein. Inzwischen sind die Bäume, mehr als 60 verschiedene Arten, weitergezogen. Wochenweise werden die Bäume mit Hilfe von fünf ehrenamtlichen Helfern pro Kübel auf einem hydraulisch betriebenen Wagen an andere Orte in der Stadt verbracht. Die Bäume sind Teil eines Plans, genauer, des Arcadia-Plans. Mit der als Triennale angelegten „Arcadia“– benannt nach der gleichnamigen utopischen Landschaft – will die Stadt ihren Europäischen Kulturhauptstadt-Status von 2018 gewissermaßen weiterführen. Damals erlebte die charmante, knapp 109 000 Einwohner zählende Metropole im nördlichsten Zipfel der Niederlande einen echten Hype. Tausende kamen, um sich selbst ein Bild davon zu machen, dass Friesland mehr zu bieten hat, als Kühe, Meer und plattes Land. Über 300 Ausstellungen, Konzerte und Veranstaltungen waren gelistet und schlugen am Ende mit 5,5 Millionen Besuchen zu Buche. Das
Motto „iepen mienskip“(Friesisch für „Offene Gesellschaft“), sollte auch in der Zeit danach noch seine Bedeutung haben. Zentraler Punkt war das gemeinsame, von unten ausgehende Arbeiten an einer besseren Welt.
Mit der jetzt aufgelegten, hundert Tage dauernden Arcadia erlebt iepen mienskip eine Neuauflage und zeigen ihre Macher, dass Leeuwarden auch nach 2018 in der Lage ist, viele Besucher in die friesische Provinzhauptstadt zu locken. Auch die „Bottom to top“-Philosophie kommt bei dem zehn Millionen Euro-Event, das sechzig Veranstaltungen professioneller Künstler und lokaler Akteure umfasst, zum Tragen. Der wandernde Wald („Bosk“) ist ein gutes Beispiel hierfür. Initiiert noch von Joop Mulder, dem inzwischen verstorbenen, höchst beliebten Kulturmanager, der 2018 auch schon für das Küsten-Projekt „Sense of Place“verantwortlich zeichnete, wurde er von Bruno Doedens zu Ende gedacht. „Die Botschaft ist: Welche Zukunft wollen wir? Und wie können wir sie gemeinsam angehen?“, so der Kurator bei der Vorstellung des Projekts. „Bosk versucht, eine Idee davon zu geben. Wir haben viel mehr solcher Ideen nötig. Und dafür sind Kunst und Kultur so wichtig. Bosk will Fragen stellen. Zur gleichen Zeit aber sehen wir, dass wir es gemeinsam angehen können, wenn wir nur wollen. Schon jetzt haben sich mehr als 2 000 Menschen für das Verrücken der Bäume gemeldet“. Und weiter mit einem Augenzwinkern: „Es ist wie mit der Elfstedentocht: Du kommst sehr schnell auf die Warteliste“. Damit spielt Doedens auf das begehrte nationale Eislaufereignis an, das durch elf friesische Städte führte. Das traditionelle, rund 200 Kilometer lange Rennen auf zugefrorenen Kanälen und Seen fand 1997 zum letzten Mal statt – die Winter werden zu warm, die Eisdecke erreicht ihre Mindestdicke von 15 cm nicht mehr.
Zweifelsohne ist Bosk angelehnt an die 7 000 Eichen von Joseph Beuys, die dieser zur Documenta 1982 in Kassel pflanzte und so der Stadt zu neuem Grün verhalf. „Es erinnert aber auch an den Club of Rome, der vor 50 Jahren seinen ersten Bericht herausgab“, so Doedens. „Deshalb ist es jetzt auch ein sehr guter Moment, um erneut auf unser Verhalten gegenüber der Erde aufmerksam zu machen. Es ist spät, aber nicht zu spät. Indem wir jetzt die Ärmel hochkrempeln, können wir immer noch gute Vorfahren sein“.
Ein zweites großes Projekt von Arcadia spielt sich im königlichen Oranjewoud bei Heerenveen ab, 30 Kilometer südlich von Leeuwar
Gemeinsames Bäumerücken
Paradiesische Zustände