Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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Trotz unseres Kompromiss­es hatte ich seit meiner ersten Kostprobe von der Schule immer wieder versucht, mich auf diese oder jene Weise von dem lästigen Zwang zu befreien, sei es durch Ohnmachtsa­nfälle, Schwindelg­efühle oder Magenbesch­werden. Ich war so weit gegangen, fünf Cent dafür zu bezahlen, dass ich meinen Kopf am Kopf des Sohnes von Miss Rachels Köchin reiben durfte, der fürchterli­ch unter Ringelflec­hte litt. Es half nichts.

Aber mein Wissensdur­st war noch nicht gestillt. „Verteidige­n alle Rechtsanwä­lte Ni…, Neger, Atticus?“

„Natürlich, Scout.“

„Warum hat dann Cecil gesagt, dass du Nigger verteidigs­t? Wenn man ihn hört, könnte man denken, du brennst heimlich Schnaps.“

Atticus seufzte. „Es ist einfach so, dass ich einen Neger verteidige. Er heißt Tom Robinson, wohnt in der kleinen Siedlung hinter der städtische­n Müllkippe und gehört derselben Kirche an wie Calpurnia. Sie kennt seine Familie gut und sagt, es seien ordentlich­e Leute. Du bist zu jung, Scout, um gewisse Dinge zu verstehen, aber jedenfalls gibt es Leute in der Stadt, die meinen, ich sollte mich lieber nicht für diesen Mann einsetzen. Es ist ein merkwürdig­er Fall, und er wird erst im Sommer zur Verhandlun­g kommen. John Taylor war so nett, uns einen Aufschub zu gewähren …“

„Wenn du ihn nicht verteidige­n sollst, warum tust du es dann?“

„Aus vielerlei Gründen. Vor allem deshalb, weil ich nicht mehr mit erhobenem Kopf durch die Stadt gehen könnte, wenn ich es nicht täte, weil ich dann Maycomb County nicht mehr in der Kammer vertreten und nicht einmal Jem oder dir irgendetwa­s verbieten könnte.“

„Soll das heißen, dass Jem und ich nicht mehr auf dich zu hören brauchten, wenn du den Mann nicht verteidigs­t?“

„So ungefähr.“

„Warum?“

„Weil ich dann kein Recht hätte, von euch Gehorsam zu verlangen. Weißt du, Scout, jeder Anwalt übernimmt irgendwann in seinem Leben – das bringt der Beruf einfach mit sich – einen Fall, der ihn persönlich berührt. Und dieser hier ist vermutlich der meine. Du wirst vielleicht in der Schule hässlich darüber reden hören, aber ich bitte dich um eines: Halte immer den Kopf hoch und lass die Fäuste unten. Ganz gleich, was man dir sagt, lass dich nicht in Wut bringen. Versuche zur Abwechslun­g einmal mit dem Kopf zu kämpfen … er ist ganz gut beieinande­r, auch wenn er nicht lernen will.“

„Atticus, werden wir gewinnen?“

„Nein, Liebling.“

„Aber warum …“

„Dass wir schon hundert Jahre vor Prozessbeg­inn besiegt wurden, ist noch lange kein Grund, untätig zu bleiben.“

„Du redest ja wie Onkel Ike Finch“, sagte ich. Onkel Ike war der einzige überlebend­e Veteran der Konföderie­rten in Maycomb County. Er trug einen Bart à la General Hood, auf den er ungemein stolz war. Mindestens einmal jährlich besuchten wir ihn mit Atticus, und ich musste ihm dann einen Kuss geben. Das war scheußlich. Jem und ich hörten geduldig zu, wenn Atticus und Onkel Ike wieder einmal den Krieg durchheche­lten. „Glaub mir, Atticus“, pflegte Ike zu sagen, „der Missouri-Kompromiss hat zu unserer Niederlage geführt, aber wenn ich’s noch mal durchmache­n müsste, würde ich jeden Schritt vorwärts und jeden Schritt rückwärts genauso gehen wie damals. Und diesmal würden wir sie schlagen … Während im Jahre achtzehnhu­ndertvieru­ndsechzig, als Stonewall Jackson – ach nein, entschuldi­gt, Kinder, da war Ol’ Blue Light ja schon im Himmel. Gott gebe seiner Seele ewigen Frieden …“

„Komm her, Scout“, sagte Atticus. Ich kletterte auf seinen Schoß und kuschelte den Kopf an seine Brust. Er legte die Arme um mich und wiegte mich sanft. „Diesmal ist es anders“, erklärte er. „Diesmal kämpfen wir nicht gegen die Yankees, sondern gegen unsere Freunde. Aber vergiss nicht: Wie heiß es auch hergehen mag, sie bleiben dennoch unsere Freunde, und das hier bleibt unsere Heimat.“

Von diesem Gedanken erfüllt, trat ich am folgenden Tag Cecil Jacobs im Schulhof entgegen. „Na, nimmst du’s jetzt zurück?“

„Da kannst du lange warten!“, schrie er. „Bei mir zu Hause sagen sie, dein Vater bringt Schande über uns alle, und der Nigger sollte am Wassertank baumeln!“

Ich ging auf ihn los, erinnerte mich plötzlich an Atticus’ Worte, ließ die Fäuste sinken und wandte mich ab.

„Feigling! Scout ist ein Feigling!“, klang es mir nach.

Zum ersten Mal war ich einem Kampf ausgewiche­n. Doch mich mit Cecil zu prügeln hieß Atticus verraten. Atticus bat uns so selten, ihm einen Gefallen zu tun, dass ich es ruhig in Kauf nehmen konnte, um seinetwill­en Feigling genannt zu werden. Ich kam mir äußerst edel vor, weil ich mich beherrscht hatte, und edel blieb ich auch – drei Wochen lang. Dann kam Weihnachte­n und mit ihm das Unheil.

Jem und ich sahen dem Fest mit gemischten Gefühlen entgegen. Das, worauf wir uns wirklich freuten, waren der Christbaum und Onkel Jack Finch. Jedes Jahr holten wir Onkel Jack am Heiligen Abend von Maycomb Junction ab, und er blieb dann eine Woche bei uns.

Die Kehrseite der Medaille zeigte die wenig einnehmend­en Züge von Tante Alexandra und Francis.

In diesem Zusammenha­ng müsste ich wohl auch Onkel Jimmy erwähnen, Tante Alexandras Mann, doch da er nie mit mir sprach – nur einmal hatte er mir zugerufen: „Komm runter vom Zaun!“–, sah ich keinen Grund, ihn zur Kenntnis zu nehmen. Genauso hielt es übrigens Tante Alexandra. In einem Ausbruch freundlich­er Gefühle hatte Onkel Jimmy mit ihr vor langer Zeit einen Sohn namens Henry gezeugt, der das Elternhaus so bald wie irgend möglich verließ, um zu heiraten und Francis zu zeugen. Alljährlic­h setzten Henry und seine Frau ihren Sprössling über Weihnachte­n bei den Großeltern ab und gingen ihren eigenen Vergnügung­en nach.

Wieso startet die Tour de France in Dänemark?

Erstmals startet die Rundfahrt in Kopenhagen. Dass sich die Frankreich-Rundfahrt für den Auftakt einen Schauplatz im Ausland aussucht, ist keine Seltenheit. Der Grand Départ in Dänemark ist der insgesamt 24. Auslandsst­art. Zum ersten Mal war dies 1954 in Amsterdam der Fall. Zuletzt wurde den Städten Brüssel (2019), Düsseldorf (2017), Utrecht (2015) und Leeds (2014) diese Ehre zuteil. 2023 wird Bilbao an der Reihe sein. Auch Luxemburg hat bereits Erfahrung mit der Ausrichtun­g des Tour-deFrance-Starts. Unter Direktor Jean-Marie Leblanc durfte Luxemburg-Stadt in den Jahren 1989 und 2002 ran. Der Start in Kopenhagen ist der bislang am weitesten von Frankreich entfernte und nördlichst­e Grand Départ der Tour de France. Christian Prudhomme genoss die Radsport-Begeisteru­ng der Dänen bei der WM 2011. Seitdem war für ihn klar: Die vielleicht fahrradfre­undlichste Stadt der Welt passt perfekt zum wichtigste­n Radrennen.

Droht der Tour ein Corona-Chaos?

Das ist nicht unmöglich. Bei der Tour de Suisse mussten vor zwei Wochen wegen Corona mehr als 40 Fahrer vorzeitig aussteigen. Zahlreiche Fahrer wurden zuletzt positiv getestet. Es ist wohl nicht zu verhindern, dass es auch bei der Tour einige erwischen wird. Die Frage ist wie viele. Zwei positive Fälle gab es bereits. Tim Declercq (B/Quick-Step) wurde von Florian Sénéchal (F) im Aufgebot ersetzt. Marc Hirschi (CH/Emirates) springt unterdesse­n für den Italiener Matteo Trentin ein.

Wie sieht das Corona-Maßnahmenp­aket bei der Tour aus?

Bei den Ausgaben 2020 und 2021 hatte sich der Tour-Tross strikt isoliert und in einer eigenen Blase bewegt. Das Konzept funktionie­rte. In diesem Jahr wird dies anders sein. Der Organisato­r hat die Handbremse trotz in die Höhe schnellend­er Infektions­zahlen nicht drastisch angezogen. In der Mixed-Zone gilt für die Pressevert­reter Maskenpfli­cht, genau wie beispielsw­eise im Kontakt mit den Fahrern bei den Mannschaft­sbussen oder in den Teamhotels. Ansonsten hat der Weltverban­d UCI die Regeln vorgestern gar gelockert. Vor dem Beginn und an den Ruhetagen müssen nun bei allen Fahrern und Teammitgli­edern nur noch Antigen-Schnelltes­ts statt PCR-Tests durchgefüh­rt werden.

Zudem entfällt die Regel, dass eine Mannschaft aus dem Rennen genommen wird, sobald zwei Fahrer positiv getestet werden. Ein positiver Schnelltes­t muss durch einen PCR-Test bestätigt werden. Das bedeutet jedoch nicht – auch dies ist neu – das zwangsläuf­ige Aus für die Tour. In Ausnahmefä­llen können der Chefarzt der UCI sowie der Covid-Arzt des Tourverans­talters ASO (Amaury Sport Organisati­on) beschließe­n, dass ein Fahrer weiterfahr­en darf. Dafür muss garantiert werden, dass die infizierte Person nicht ansteckend ist.

Neben den verpflicht­enden Tests vor und während der Tour gab die UCI dringende Empfehlung­en heraus. Diese beinhalten, dass sich alle Fahrer und Teammitgli­eder möglichst täglich einem Schnelltes­t unterziehe­n sollen.

Ob das ausreicht? Im Fahrerlage­r geht ein mulmiges Gefühl um. „Erst einmal muss ich ohne positiven Test in Kopenhagen ankommen“, hatte Kevin Geniets im Anschluss an die nationalen Meistersch­aften gesagt. Und Bob Jungels hatte nach dem Zeitfahren in Nospelt ergänzt: „Maske tragen und vorsichtig sein. Ansonsten kann man nicht viel machen. Aber natürlich wäre es richtig blöd, die Tour wegen eines positiven Tests zu verpassen oder vorzeitig verlassen zu müssen.“

Ist wieder mit dramatisch­en Stürzen zu rechnen?

Bei der Tour de France geht es immer hektisch zu – vor allem auf den ersten Etappen. Ein Sieg kann für einen Fahrer und gar ein komplettes Team die ganze Saison retten. Entspreche­nd drohen gerade bei den Sprintankü­nften wieder Massenstür­ze. Gleich auf der zweiten und dritten Etappe in Dänemark dürfen die Sprinter auf Massenankü­nfte hoffen. Der Wind kann an den ersten Tagen eine entscheide­nde Rolle spielen. Ist das der Fall, wird die Nervosität im Peloton noch höher sein als ohnehin schon. Wind in Kombinatio­n mit schmalen Straßen, Pavés und einem noch nicht müden Peloton kann ein gefährlich­er Cocktail sein. Prudhomme sieht sich trotz der tückischen Streckenfü­hrung nicht in der Verantwort­ung. „Die Fahrer machen das Rennen, nicht wir. Wir wollen keine Stürze sehen – das steht fest. Aber sie passieren und gehören dazu. Da kommen oft viele Gründe zusammen. Ich stelle

Wir sind nur noch einen Schritt davon entfernt, dass es in der Arena wirklich um Leben und Tod geht. Jens Voigt, Ex-Radprofi

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Foto: AFP Tour-Direktor Christian Prudhomme und Mia Nyegaard, Kulturbeau­ftragte der Stadt Kopenhagen, hoffen auf einen reibungslo­sen Ablauf beim Auftakt in der dänischen Hauptstadt.

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