Einsatz für eine bessere Welt
Vor 20 Jahren wurde der Weltstrafgerichtshof in Den Haag ins Leben gerufen – es gibt Licht, aber auch Schatten
In Anzug und Krawatte sitzt er auf der Anklagebank, gleich hinter seinem Verteidiger: Ali Muhammad Ali Abd-al-Rahman, ein ehemaliger sudanesischer Milizenchef. Mit ausdruckslosem Gesicht hört er sich die 31 Anklagepunkte an. Der inzwischen 72-Jährige soll ein Anführer der berüchtigten Dschandschawid-Milizen gewesen sein, die während des Bürgerkriegs in Darfur besonders grausam gegen die Zivilbevölkerung vorgingen.
Die Anklage wirft ihm Kriegsund Menschlichkeitsverbrechen vor: Mord, Folter, Vergewaltigung und Vertreibung in Hunderten von Fällen. Chefankläger Karim Khan spricht von einem „strong case”. Das Beweismaterial der Anklage sei überzeugend: „Am Ende dieses Verfahrens werden in Dafur die ersten Tropfen der Gerechtigkeit fallen – auf diese Wüste, in der bis dahin Straffreiheit herrschte”.
Den ICC verbessern
Der Prozess gegen Abd-al-Rahman ist einer der wichtigsten, die derzeit am Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag (ICC) laufen – und Khans erster: Seit knapp einem Jahr ist der britische Jurist im Amt. Seitdem weht in Den Haag ein anderer Wind. Nicht nur wegen Khans auffallend blumiger Sprache. Vor allem, weil er das tut, was sich viele von seinen Vorgängern vergeblich gewünscht haben: Er demonstriert Tatkraft.
„Der ICC befindet sich auf dem Prüfstand”, sagt er. Das 20-jährige Jubiläum ist für ihn weniger ein Grund zum Feiern als eine Gelegenheit
zum Nachdenken: „Es ist ein Segen, dass es diesen Gerichtshof gibt, aber nun müssen wir Wege finden, wie wir es besser machen können”.
Denn das Erbe, das er angetreten hat, ist schwer: Nur zwölf Verfahren konnte der Hof in den ersten 20 Jahren seines Bestehens abschließen, von diesen zwölf wurden vier aus Mangel an Beweisen eingestellt. In fünf Prozessen wurden die Angeklagten für schuldig befunden, in drei freigesprochen.
Folge: Der ICC ist ins Kreuzfeuer der Kritik geraten, verflogen die Euphorie nach seiner Gründung am 1. Juli 2002: Fortan sollte es weltweit vorbei sein mit der Straffreiheit von politischen und militärischen Machthabern. „Dieser Gerichtshof ist ein Wunder”, sagte der erste ICC-Chefankläger Luis Moreno Ocampo. „Wir machen die Welt weniger primitiv, wir haben für neue Spielregeln gesorgt: Wer Kriegsverbrechen begeht, wird bestraft.”
Doch diesem Anspruch kann das neue Gericht gar nicht gerecht werden. „Die Erwartungen waren viel zu hoch”, sagt Marieke de Hoon, Assistenz-Professorin für internationales Strafrecht an der Universität von Amsterdam. „Vom Ende der Straflosigkeit kann keine Rede sein. Dazu sind viel zu wenig Länder Mitglied des ICC.”
Denn anders als sein Wegbereiter, das Tribunal für das ehemalige Jugoslawien, ist der ICC kein UNO-, sondern ein Vertragstaatengericht. 123 Länder haben seine juristische Basis, das Rom-Statut, ratifiziert. Großmächte wie China, Russland und die USA gehören nicht dazu, sie wollen verhindern, dass sich ihre Staatsbürger jemals vor diesem Gericht verantworten müssen. Denn ermitteln kann der ICC im Prinzip nur dann, wenn die Angeklagten aus einem der Vertragsstaaten kommen oder die Verbrechen auf dem Gebiet dieser Länder verübt wurden. Bei schweren Verbrechen in anderen Ländern kann der UN-Sicherheitsrat den ICC-Chefankläger zwar auffordern, Ermittlungen aufzunehmen. Das ist bisher zweimal der Fall gewesen: in Libyen und im Sudan. Doch eine solche Entscheidung kann durch ein Veto blockiert werden. Deshalb hat der ICC in Syrien bislang keine Ermittlungen aufnehmen können, China und Russland haben dagegen gestimmt. „Das Veto im UN-Sicherheitsrat ist eines der größten Handicaps des ICC”, so Strafrechtsexpertin Marieke de Hoon.
Begrenztes Budget
Ein weiteres Handicap: Der ICC hat keine eigene Polizeimacht und ist bei Verhaftungen auf die Mitarbeit der Staatengemeinschaft angewiesen. Auch in finanzieller Hinsicht: Das derzeitige Jahresbudget, das die Vertragsstaaten bewilligt haben, liegt bei 155 Millionen Euro – verglichen mit den Budgets, die vielen nationalen Gerichten zur Verfügung stehen, ist das extrem wenig. Dort beschränken sich die Ermittlungen in der Regel auf nur ein Land, beim ICC hingegen laufen sie in derzeit 16 Staaten und sind obendrein weitaus aufwendiger. Den Vorwurf, die Verfahren würden zu lange dauern, halten viele Rechtsexperten deshalb für unberechtigt: Geht es doch um extrem komplexe und schwerwiegende Verbrechen, die oft Jahrzehnte zurückliegen und Tausende von Kilometern entfernt stattfanden. Die Gebiete sind oft unzugänglich, die Zeugen traumatisiert. Gleichwohl will Chefankläger Khan sein Bestes geben, um die Qualität und das Tempo der Ermittlungen
zu erhöhen: „Damit die Opfer nicht Jahrzehnte auf Gerechtigkeit warten müssen”.
Unberechtigt auch der Vorwurf, der ICC sei ein Afrika-Tribunal, weil es sich bei sämtlichen Angeklagten der ersten 20 Jahre um Afrikaner handelt: In den meisten Fällen waren es die afrikanischen Länder selbst, die den ICC darum baten, die Ermittlungen einzuleiten. Aufgrund des sogenannten „Komplementaritätsprinzips” hat die nationale Justiz Vorrang, erst wenn sie nicht selbst eingreifen kann oder will, wird der ICC aktiv. Weil Recht am besten dort gesprochen werden sollte, wo die Straftaten begangen werden, dort, wo Opfer und Täter leben.
Der ICC braucht mehr Transparenz „Mehr Transparenz hätte dem ICC diesen Vorwurf erspart”, findet der Amsterdamer Anwalt und Professor für internationales Recht Geert Jan Knoops, der am ICC bereits als Verteidiger aufgetreten ist. „Nach 20 Jahren ist der ICC für einen großen Teil der Welt immer noch unsichtbar. Er sollte der Öffentlichkeit klarmachen, weshalb er zum Beispiel in einem Teil der Welt in einen Konflikt eingreift und in einem anderen nicht.”
Inzwischen ist die Anklagebehörde auch auf anderen Kontinenten aktiv geworden: in Afghanistan und auf den Philippinen, wegen der gnadenlosen Anti-Drogen-Politik von Präsident Duerte, die bereits Tausende Menschen das Leben gekostet haben soll. In den Palästinensergebieten wegen mutmaßlicher Verbrechen während des Gazakriegs 2014. Und seit März dieses Jahres auch in der Ukraine. Weder Russland noch die Ukraine gehören zu den Vertragsstaaten. Aber die ICC-Anklagebehörde kann auch dann aktiv werden, wenn ein Nichtvertragsstaat sie darum bittet – und das hat die Ukraine bereits 2014, nach der Annexion der Krim, getan.
Vom Ende der Straflosigkeit kann keine Rede sein. Marieke de Hoon, Assistenz-Professorin für internationales Strafrecht an der Universität von Amsterdam