Die NATO-isierung Europas
Der Madrider Gipfel war ein Erfolg, finden die Teilnehmer – klare Ansagen aus den USA
Die Welt hat sich verändert. „Heute herrscht im euroatlantischen Raum Frieden, und die Bedrohung durch einen konventionellen Angriff auf das NATO-Gebiet ist gering“, schrieben vor zwölf Jahren die Autoren des bisherigen Strategischen-NATO-Konzepts über das damalige Sicherheitsumfeld. Jetzt steht da stattdessen: „Der euroatlantische Raum ist nicht im Frieden. Die Russische Föderation hat gegen die Normen und Prinzipien verstoßen, die zu einer stabilen und berechenbaren europäischen Sicherheitsordnung beigetragen haben. Wir können die Möglichkeit eines Angriffs auf die Souveränität und territoriale Integrität der Alliierten nicht ausschließen.“
Die Verabschiedung ihrer neuen strategischen Leitlinien muss man zu den Erfolgen des Treffens der NATO-Staats- und Regierungschefs am Mittwoch und Donnerstag in Madrid zählen, auch wenn die Lektüre des Papiers keine Freude ist. Es beschreibt eine Welt der Gefahren, zu deren Bekämpfung sich die NATO auf alte Überzeugungen besinnt: „Niemand sollte an unserer Stärke und Entschlossenheit zweifeln, jeden Zoll alliierten Territoriums zu verteidigen.“Selbst gegen einen atomaren Angriff. Denn: „Die Allianz hat die Fähigkeiten und die Entschlossenheit, jedem Gegner Kosten aufzuerlegen, die inakzeptabel wären und bei Weitem die Vorteile übersteigen würden, die ein Gegner zu erzielen hoffen könnte.“
Hoher Preis
„Wir leben in einer gefährlicheren Welt“, fasste NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg die Lage der Dinge auf der Abschlusspressekonferenz zusammen. Und die „Kernverantwortung“der NATO in dieser Situation sei es, dass nicht auch NATO-Mitglieder Opfer eines Angriffs werden. Darüber solle es keine Missverständnisse geben, sagte Stoltenberg an die Adresse Putins: „Mit uns könnt ihr das nicht machen.“
Was die NATO tut, um den Gefahren zu begegnen, ist aufrüsten. Es gibt keine Friedensdividende mehr wie nach dem Fall der Mauer, stattdessen erlebt Europa den schwersten militärischen Angriff auf einen souveränen – und demokratischen – Staat seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Stoltenberg konnte keine Zahlen nennen, um den Preis der eingegangenen
Selbstverpflichtungen der NATOStaaten und der neuen gemeinsamen Aufgaben zu beziffern, aber der Anstieg der Ausgaben wird „signifikant“sein.
Das passt nicht allen. In Spanien hat die Linkspartei Unidas Podemos, der Koalitionspartner von Gipfel-Gastgeber Pedro Sánchez, bereits angekündigt, einer Ausweitung des Militärhaushalts nicht zustimmen zu wollen. Spanien gehört zu den Ländern, die noch weit vom Zwei-Prozent-Ziel für ihren Rüstungsetat entfernt sind, dessen Erreichen aber bis 2030 versprochen haben.
Noch immer verlässt sich Europa zu seiner Verteidigung auf die USA und ist froh, dort zurzeit wieder einen überzeugten Anhänger des nordatlantischen Bündnisses im Weißen Haus zu wissen. Joe Biden machte während des Madrider Gipfels die konkretesten Versprechen, um seine europäischen
Partner vor der russischen Gefahr zu beschützen: Er will erstmals in Polen eine US-amerikanische Garnison etablieren, in Großbritannien sollen zwei zusätzliche F-35Geschwader stationiert, in Deutschland und Italien neue Luftabwehrsysteme installiert und in Spanien dauerhaft zwei weitere Zerstörer beheimatet werden. Letzteres übrigens auch wieder zum Unwillen von Unidas Podemos – die Regierung setzt in dieser Sache auf Unterstützung der konservativen Opposition.
„Putin wollte die Finnlandisierung Europas erreichen“, sagte Biden in Madrid. Aber: „Sie werden die NATO-isierung Europas bekommen.“Statt auf Neutralität setzen Finnland und Schweden auf ihre künftige Zugehörigkeit zum mächtigsten Militärblock der Erde. Die letzten Hindernisse für ihren Beitritt wurden schon am Dienstagabend in Gesprächen mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan aus dem Weg geräumt. Die schwedisch-türkische Konfrontation wegen vorgeblicher oder wahrhaftiger kurdischer Terroristen ist damit nicht beendet, aber sie wird künftig eine Konfrontation unter NATO-Partnern sein. Ein weiterer Erfolg dieses NATO-Gipfels.
Nichts Konkretes
Per Video zu Gast war auch Wolodymyr Selenskyj, der ukrainische Präsident, der vor der „Weltordnung der Zukunft“warnte, die Putin durchzusetzen gedenke. Die NATO-Alliierten erklärten ihren „ungebrochenen Willen zur Unterstützung“der Ukraine, was aber nichts Konkretes heißt. Außer den besten Absichten gibt es keine gemeinsame NATO-Linie für die Verteidigung der Ukraine – noch nicht einmal eine gemeinsame Überzeugung, dass Russland die völkerrechtlich gültigen Grenzen des Landes anzuerkennen habe.
Wir leben in einer gefährlicheren Welt. NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg