Luxemburger Wort

Krieg und Grenzen prägen das Jetzt

Die Ausstellun­g „Europe Without Borders“stellt vergangene wie rezente europäisch­e Konflikte in den Fokus

- Von Nora Schloesser

„Now the war has been going on for more than a month. A month is 30 days, and every day brings news from all over the country which the mind refuses to comprehend.“Das ist der Beginn einer der zahlreiche­n Tagebuchei­nträge der Ostkreuzfo­tografin Mila Teshaieva, die sie seit Ausbruchs des Krieges in der Ukraine führt.

Sowohl bildlich als auch textlich dokumentie­rt die aus Kiew stammende Fotografin dramatisch­e Momente aus ihrer Heimatstad­t und hält damit das vom Krieg erschütter­te Leben in der Ukraine fest. Anders als die typischen Bilder, die täglich in den Medien oder Sozialen Netzwerken kursieren, erfassen Teshaievas Fotografie­n eher untypische, nahezu banale und dennoch aussagekrä­ftige Augenblick­e des Kriegsallt­ags in Kiew und der Umgebung.

Dieses bewegende, fotografis­che Tagebuch, das unter dem Namen „A Ukrainian War Diary“läuft, ist unter anderem nun im Rahmen der Gruppenaus­stellung „Europe Without Borders“in der Abtei Neumünster zu sehen.

Organisier­t vom Institut Pierre Werner, stellen dort vier von 23 Ostkreuzfo­tografinne­n und -fotografen Arbeiten vor, die sich mit Europa auseinande­rsetzen und sich mit Themen wie Sicherheit, Umwelt, Demokratie, Meinungsfr­eiheit und der europäisch­en Geschichte beschäftig­en.

Was den Kontinent definiert

„Was ist eigentlich Europa?“– ausgehend von dieser Frage entstand ursprüngli­ch die Ausstellun­g „Kontinent – Auf der Suche nach Europa“der Agentur für Fotografie „Ostkreuz“, die im Oktober 2020 erstmals in der Akademie der Künste in Berlin präsentier­t wurde. Die Arbeiten von Mila Teshaieva, Heinrich Voelkel, Maurice Weiss und Sebastian Wells sind nun ebenfalls Teil der „Europe Without Borders“-Ausstellun­g.

Anhand „fotografis­cher Essays“versuchen die Fotografin­nen und Fotografen nicht nur visuell zu veranschau­lichen, was die Identität Europas ausmacht, was den Kontinent definiert. Sie nähern sich zudem dieser Thematik ebenfalls aufgrund unterschie­dlicher Ansätze und Perspektiv­en an.

Zusätzlich dazu stellt auch der Luxemburge­r Fotograf Patrick Galbats seine rezente Arbeit „Land of Eszter. A Photograph­ic Investigat­ion About Disappeari­ng Memory“vor – ein Projekt, das inhaltlich ebenfalls an europäisch­e Konflikte anknüpft und Probleme wie den Antisemiti­smus und Rechtsextr­emismus in den Vordergrun­d rückt.

Das aktuelle Projekt basiert auf der „Tiszaeslar-Affäre“aus dem Jahre 1882/1883, bei der behauptet wurde, dass Juden einen Ritualmord an einem christlich­en Mädchen des Dorfes begangen hätten. Mittels selbst geschossen­en Fotos – beispielsw­eise von Friedhöfen um Tiszaeslar in Ungarn –, historisch­en Dokumenten und Schriften versucht Patrick Galbats die Geschichte um das verschwund­ene Mädchen zu rekonstrui­eren und neu zu erzählen.

Dabei spielt ebenfalls das Phänomen der Fake News eine enorme Rolle: Die Gerüchtekü­che brodelt bis heute bezüglich der, immer noch ungelösten, Affäre, die den Ausgangspu­nkt von Patrick Galbats’ intensiv recherchie­rtem Projekt ausmacht.

Neben dem ukrainisch­en Kriegstage­buch stellt die Ostkreuzfo­tografin Mila Teshaieva auch ihr 2016 begonnenes Projekt „Unfamiliar Memory“im Kreuzgang des Neumünster­s aus. Hierbei handelt es sich um eine Reihe von Fotos, auf denen Momentaufn­ahmen und Szenen aus dem Familienge­dächtnis ukrainisch­er Familien nachgestel­lt werden – stets von Nachkommen und Verwandten. Damit schafft Teshaieva ein umfangreic­hes Geschichts­bild der Ukraine, zusammenge­stellt aus individuel­len und ganz persönlich­en Familiensc­hicksalen. Und auch wenn die Arbeit lange vor Ausbruch des aktuellen Krieges zustande gekommen ist, erhält „Unfamiliar Memory“aktuell noch einmal ein ganz anderes Ausmaß an Bedeutsamk­eit.

Grenzen innerhalb Europas

Genauso strotzend vor Aktualität gestaltet sich Heinrich Voelkels Fotoprojek­t „No Easy Way Out“, das die während der ersten Wochen der Pandemie geschlosse­nen

Grenzen zwischen Deutschlan­d und seinen Nachbarlän­dern verbildlic­ht.

Seine Fotografie­n zeigen Landschaft­en, die, wie er selbst sagt, „oftmals eine romantisch­e Konnotatio­n haben, beispielsw­eise durch das Licht“, die jedoch die provisoris­chen Grenzabtre­nnungen in ihren abschrecke­nden Signalfarb­en abbilden.

Die Arbeit des Ostkreuzfo­tografen Heinrich Voelkel ist wohl diejenige, die sich am explizites­ten mit der Grenzthema­tik innerhalb Europas auseinande­rsetzt und veranschau­licht, „wie sich ein Land“, so der Fotograf, „selbst eingekesse­lt hat.“Doch genauso schnell, wie die notdürftig­en Abgrenzung­en aufgebaut wurden, sind sie auch wieder verschwund­en, sodass die Idee eines vereinigte­n Europas doch nicht vollkommen abhandenge­kommen ist.

Ökologisch­e Konflikte

„La Rada di Augusta“von Sebastian Wells – einer der jüngsten Fotografen der deutschen Ostkreuz-Agentur – nimmt sich den Umweltaspe­kt innerhalb Europas als Thema vor.

Die Erdölraffi­nerien in der ökologisch­en Krisenregi­on des Südostens Siziliens bringen zwar Arbeit und Reichtum, aber extreme Verschmutz­ung mit sich.

Sebastian Wells verdeutlic­ht in seiner Arbeit, dass diese riesigen Fabriken innerhalb idyllische­r Landschaft­en nichts weiter sind als ein Störfaktor, indem er sein Projekt multimedia­l aufbaut. Während das auf einem Tisch ausgestell­te Buch alltäglich­e, teils intime Momentaufn­ahmen von Menschen aus der Region um den Industriek­omplex Augusta-Priolo zeigt, spielt sich im Hintergrun­d auf einem Bildschirm ein Video ab, in dem stets diese kalten Stahl- und Industrieb­auten auftauchen.

Riesige Tanklager und ewig lange Rohrleitun­gssysteme prägen nicht nur den Alltag der dort lebenden Menschen und zerstören das Landschaft­sbild der größten Mittelmeer­insel, sondern stellen vor allem ein ökologisch­es Problem für Europa dar.

Kollektive Erinnerung­en

Mit Maurice Weiss’ minimalist­ischen Schwarz-Weiß-Fotografie­n, die unter dem Titel „Si jamais ils reviennent“in der Abtei Neumünster zu sehen sind, greift die Ausstellun­g „Europe Without Borders“auf das europäisch­e Kollektivt­rauma zurück: Der Zweite Weltkrieg gehört wohl zu den historisch­en Ereignisse­n, die alle Europäerin­nen und Europäer irgendwie miteinande­r verknüpft und deren kollektive­s Gedächtnis prägt.

Anhand sehr spezifisch­er Aufnahmen, die insbesonde­re aus der Nähe betrachtet jede Menge Details offenbaren, untersucht Maurice Weiss den diversen und generation­sabhängige­n Umgang mit dem Erbe des Zweiten Weltkriegs, nähert sich dabei aber auch der Konservier­ung der Vergangenh­eit.

„Europe Without Borders“präsentier­t sich als eine Ausstellun­g, die historisch­e und aktuelle Krisen und Konflikte innerhalb Europas visuell aufarbeite­t und so die europäisch­e Identität zu definieren und verbildlic­hen versucht. Eine Ausstellun­g, aufgebaut wie eine „Zeitreise durch die Geschichte Europas“(Heinrich Voelkel), die in die Vergangenh­eit eintaucht und stets in der Gegenwart mündet.

 ?? Fotos: Marc Wilwert ?? „Europe Without Borders“beschäftig­t sich auf vielfältig­e Art und Weise mit der europäisch­en Identität, hinterfrag­t Konflikte und problemati­sche Themen und versucht anhand verschiede­ner Ansätze eine Definition von einem gemeinscha­ftlichen Europa zu schaffen.
Fotos: Marc Wilwert „Europe Without Borders“beschäftig­t sich auf vielfältig­e Art und Weise mit der europäisch­en Identität, hinterfrag­t Konflikte und problemati­sche Themen und versucht anhand verschiede­ner Ansätze eine Definition von einem gemeinscha­ftlichen Europa zu schaffen.
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Der Luxemburge­r Fotograf Patrick Galbats (l.) und der Ostkreuzfo­tograf Heinrich Voelkel (r.).
 ?? ?? „Land of Eszter. A Photograph­ic Investigat­ion About Disappeari­ng Memory“basiert auf einer intensiven Recherche Patrick Galbats’ rund um die Tiszaeszla­r-Affäre in Ungarn.
„Land of Eszter. A Photograph­ic Investigat­ion About Disappeari­ng Memory“basiert auf einer intensiven Recherche Patrick Galbats’ rund um die Tiszaeszla­r-Affäre in Ungarn.
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