Wer die Nachtigall stört
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Selbst unsere flehentlichsten Bitten konnten Atticus nicht bewegen, uns am ersten Feiertag zu Hause zu lassen. Soweit mein Gedächtnis zurückreicht, verlebten wir Weihnachten stets auf Finch’s Landing. Die Kochkünste unserer Tante waren das Einzige, was uns einigermaßen dafür entschädigte, das Fest in Francis Hancocks Gesellschaft verbringen zu müssen. Er war ein Jahr älter als ich, und ich ging ihm grundsätzlich aus dem Wege: Er fand alles schön, was ich nicht mochte, und er verabscheute dafür meine sinnreich erdachten Spiele.
Tante Alexandra war die Schwester von Atticus. Als Jem mir jedoch von untergeschobenen Kindern und Wechselbälgern erzählte, kam ich zu der Überzeugung, dass Alexandra bei ihrer Geburt vertauscht worden war und dass meine Großeltern statt einer Finch eine Crawford bekommen hatten. Die mystischen Vorstellungen, die manche Rechtsanwälte und Richter von Bergen zu hegen scheinen, waren mir fremd, sonst hätte ich wohl Tante Alexandra mit dem Mount Everest verglichen: Meine ganze Kindheit hindurch war sie immer kalt und immer da.
Als Onkel Jack am Weihnachtsabend aus dem Zug stieg, mussten wir warten, bis ihm der Gepäckträger
zwei längliche Pakete brachte. Jem und ich fanden es immer komisch, wenn Onkel Jack unseren Vater auf die Wange küsste; bei anderen Männern hatten wir das noch nie gesehen. Onkel Jack schüttelte Jem die Hand und schwang mich in die Höhe, aber nicht hoch genug, denn er war einen Kopf kleiner als Atticus. Er war das Nesthäkchen der Familie, viel jünger als Tante Alexandra, der er ähnlich sah. Allerdings wusste er seinem Gesicht einen angenehmeren Ausdruck zu geben, so dass uns der scharfe Schnitt von Nase und Kinn bei ihm nie einschüchterte.
Er war einer der wenigen Männer der Wissenschaft, die mir keine Angst einflößten, vermutlich weil er nicht wie ein Arzt auftrat. Wenn er Jem oder mir irgendeinen kleinen ärztlichen Dienst erwies, zum Beispiel einen Splitter aus dem Fuß zog, sagte er uns stets genau, was er mit uns vorhatte, wie weh es voraussichtlich tun würde und wozu jedes einzelne Instrument diente. Einmal zu Weihnachten drückte ich mich in den Ecken herum, quälte mich mit einem tiefsitzenden Splitter im Fuß und ließ niemand an mich heran. Als Onkel Jack mich schließlich zu fassen bekam, erzählte er während der Untersuchung eine Geschichte, über die ich mich vor Lachen ausschütten wollte. Sie handelte von einem Pfarrer, der so ungern in die Kirche ging, dass er sich täglich im Schlafrock vor die Haustür stellte, eine Huka rauchte und jedem Vorübergehenden, der geistlichen Trostes bedurfte, eine FünfMinuten-Predigt hielt. Ich unterbrach Onkel Jack mit der Frage, wann er das Ding herausziehen werde, aber da hob er schon die Pinzette mit dem blutigen Splitter hoch. Er habe ihn herausgerissen, als ich gerade laut auflachte, sagte er, und so etwas nenne man Relativität.
„Was ist dadrin?“, fragte ich und zeigte auf die langen Pakete, die der Träger ihm aushändigte.
„Das geht dich gar nichts an“, sagte er.
„Was macht denn Rose Aylmer?“, erkundigte sich Jem.
Rose Aylmer war Onkel Jacks Katze, ein schönes gelbes Tier und – wie er behauptete – eines der wenigen weiblichen Wesen, die er ständig um sich haben konnte. Er griff in die Jackentasche und brachte ein paar Aufnahmen zum Vorschein, die wir gebührend bewunderten.
„Sie wird fett“, stellte ich fest. „Kunststück, sie frisst ja auch all die Finger und Ohren, die wir im Krankenhaus abschneiden.“
„Ach geh, das ist ’ne verdammte Lüge“, rief ich.
„Wie bitte?“
„Beachte sie nicht, Jack“, sagte Atticus. „Sie will sich nur aufspielen. Ich weiß von Cal, dass sie seit acht Tagen in einem fort flucht.“
Onkel Jack zog die Augenbrauen hoch und schwieg. Abgesehen von der natürlichen Anziehungskraft solcher Wörter entsprang meine neueste Leidenschaft der dürftigen Theorie, Atticus werde mich nicht mehr in die Schule schicken, wenn er entdeckte, dass ich dort fluchen lernte.
Als ich Onkel Jack beim Abendbrot bat, mir doch bitte den verdammten Schinken zu reichen, deutete er mit dem Finger auf mich und sagte: „Du kommst nachher mal zu mir, junge Dame!“
Nach dem Essen folgte ich ihm ins Wohnzimmer. Er setzte sich in einen Sessel und klopfte einladend auf seine Oberschenkel, damit ich dort Platz nähme. Ich schnupperte gern an ihm: Er roch wie eine Flasche Alkohol, gemischt mit etwas angenehm Süßem. Onkel Jack schob mir die Ponyfransen aus der Stirn und sah mich an. „Du bist Atticus ähnlicher als deiner Mutter“, sagte er. „Außerdem scheinst du ein bisschen zu groß für deine Hosen zu werden.“
„Ach wo, die passen mir noch ganz gut.“
„Wörter wie ,verdammt‘ und ,Teufel‘ gefallen dir wohl sehr?“Das gab ich unumwunden zu.
„Also mir gefallen sie gar nicht“, erklärte Onkel Jack. „So was sagt man höchstens, wenn einen jemand bis zur Weißglut reizt. Ich bleibe eine Woche hier und will in dieser Zeit nichts dergleichen mehr hören. Schreib dir das hinter die Ohren, Scout, sonst kannst du was erleben. Du willst doch mal eine Lady werden, wie?“
„Nicht unbedingt.“„Selbstverständlich willst du das. So, und nun kommt der Baum dran.“
Wir schmückten den Weihnachtsbaum, bis es Schlafenszeit war, und in der Nacht träumte ich von den beiden länglichen Paketen. Am nächsten Morgen stürzten Jem und ich uns darauf. Sie waren von Atticus. Er hatte Onkel Jack gebeten, die Geschenke für uns zu besorgen, und sie waren genau das, was wir uns gewünscht hatten.
„Nicht hier im Haus“, sagte Atticus, als Jem auf ein Bild an der Wand zielte.
„Du musst ihnen das Schießen beibringen“, meinte Onkel Jack.
„Das ist deine Sache“, erwiderte Atticus. „Ich habe mich nur in das Unvermeidliche gefügt.“