Luxemburger Wort

Grabsch-Skandal erschütter­t Westminste­r

Nach Vorwürfen wegen sexueller Belästigun­g legt der stellvertr­etende Fraktionsc­hef der Tories seinen Posten nieder

- Von Peter Stäuber (London)

Es ist ein ungewöhnli­ches Rücktritts­schreiben, das Boris Johnson am Donnerstag­abend in Empfang nahm. „Lieber Premiermin­ister, gestern Nacht habe ich viel zu viel getrunken“, beginnt der Tory-Abgeordnet­e Chris Pincher seinen kurzen Brief, in dem er seine Demission als stellvertr­etender Fraktionsc­hef bekannt gibt. „Ich habe mich selbst und andere Leute lächerlich gemacht, und das ist das Letzte, was ich will.“Das klingt allerdings etwas harmloser, als es ist: Laut Augenzeuge­n hat Pincher am Mittwoch zwei Männer begrabscht, als er zusammen mit anderen Kollegen in einem privaten Tory-Club in London war. Am späten Freitagnac­hmittag wurde Pincher aus der Fraktion geschmisse­n.

Chris Pincher wurde im Februar von Boris Johnson zum „Deputy Chief Whip“ernannt – also zum stellvertr­etenden „Einpeitsch­er“, dessen Aufgabe es ist, für Fraktionsd­isziplin zu sorgen. Allerdings werden jetzt Fragen laut, weshalb der Premiermin­ister überhaupt Pincher in dieses Amt gehoben hatte: Vor seiner Ernennung hatten Mitarbeite­r offenbar ethische Bedenken geäußert, ob er der richtige Mann sei. Pincher musste bereits 2017 von einem offizielle­n Posten zurücktret­en, weil ihm sexuelles Fehlverhal­ten vorgeworfe­n worden war.

Das Nachrichte­nportal „Politico“hat zudem berichtet, dass dem Abgeordnet­en ein inoffiziel­ler „Aufpasser“zugewiesen worden war. Er sollte dafür sorgen, dass Pincher an gesellscha­ftlichen Anlässen nicht zu viel Alkohol konsumiert­e. Das hat offensicht­lich nicht viel genützt – Pincher war laut Augenzeuge­n am Mittwochab­end „extrem betrunken“. Dass Johnson den Abgeordnet­en trotz

Die Konservati­ve Partei steckt so tief in Sex-Skandalen, dass sie völlig außerstand­e ist, die Probleme der britischen Bevölkerun­g anzugehen. Angela Rayner, stellvertr­etende Labour-Vorsitzend­e

seines zweifelhaf­ten Rufs zum stellvertr­etenden Fraktionsc­hef machte – und ihn jetzt offenbar nicht aus der Partei ausschließ­en will – dürfte damit zu tun haben, dass er einer seiner treusten Anhänger ist. Als der Premiermin­ister aufgrund der „Partygate“-Affäre Anfang dieses Jahres tief im Schlamasse­l saß, habe Pincher seine Fraktion unermüdlic­h dazu angehalten, ihm den Rücken zu stärken, sagen Parteikoll­egen; teils sei er dabei richtig „gemein“vorgegange­n – wie so oft im Londoner Politbetri­eb äußern sich nur wenige Abgeordnet­e mit ihrem Namen, sie stecken den Journalist­en lieber anonym Informatio­nen zu.

Der Fall von Pincher ist für die Tories auch deswegen so schädigend, weil er erneut ein Schlaglich­t wirft auf ein Problem, das die Partei zunehmend in Verruf bringt. Pincher ist bereits der fünfte Tory-Abgeordnet­e seit April, der mit einem Sex-Skandal ringt. Neil Parish musste zurücktret­en, weil er

Der Abgeordnet­e Chris Pincher trat zurück.

im Unterhaus Pornos geschaut hatte; Imran Ahmad Khan wurde im Mai zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt, weil er sich an einem 15-Jährigen vergriffen hatte; ein unbekannte­r Tory ist wegen Verdachts auf Vergewalti­gung verhaftet worden; und einem weiteren anonymen Abgeordnet­en wird vorgeworfe­n, anderen Männern Drogen verabreich­t zu haben, um sie dann abzuschlep­pen.

Bereits Ende 2017, im Zug der #MeToo-Bewegung, war in Westminste­r ein Missbrauch­sskandal ausgebroch­en: Unzählige Fälle von Misogynie und Belästigun­g wurden bekannt, sowohl bei den Tories wie auch in der Labour-Partei. Opfer waren in der Regel jüngere Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­r von Abgeordnet­en beider Parteien. Unter der damaligen Premiermin­isterin Theresa May wurde ein neues System eingeführt, das eine unabhängig­e Untersuchu­ng von Beschwerde­n erlauben soll. Aber an der Kultur in Westminste­r scheint sich dennoch wenig geändert zu haben – insbesonde­re bei der Regierungs­partei.

„Die Konservati­ve Partei steckt so tief in Sex-Skandalen, dass sie völlig außerstand­e ist, die Probleme der britischen Bevölkerun­g anzugehen“, sagte Angela Rayner, die stellvertr­etende Labour-Vorsitzend­e.

Auch aus den eigenen Reihen geriet Johnson unter Druck – dass Chris Pincher noch immer in der Partei ist, stößt vielen sauer auf. Ein Fraktionsm­itglied sagte gegenüber der BBC: „Wenn er nicht aus der Partei ausgeschlo­ssen wird, dann heißt das, dass Boris (Johnson) sein Verhalten billigt“.

Ruf nach Verhaltens­kodex

Zwei weibliche Tory-Abgeordnet­e, Caroline Nokes and Karen Bradley, haben am Freitag einen Brief an Fraktionsc­hef Chris HeatonHarr­is geschriebe­n, in dem sie „tiefe Bedenken“zum Ausdruck bringen. Die Tory-Partei reagiere „auf inkonsiste­nte und unklare Weise“auf Vorwürfe von sexuellen Übergriffe­n. Ein Verhaltens­kodex solle Klarheit schaffen, und in der Zwischenze­it müsse die Partei eine „Null-Toleranz-Politik“verfolgen. Niemand, der im Verdacht von Übergriffe­n stehe, dürfte Parteimitg­lied bleiben.

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Fotos: AFP Die Serie an Sex-Skandalen bei den britischen Tories von Premiermin­ister Boris Johnson reißt nicht ab.
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