Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

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Es bedurfte der Gerichtssa­alstimme von Atticus, uns vom Weihnachts­baum wegzureiße­n. Leider erlaubte er nicht, dass wir die Gewehre mit zur Landing nahmen (ich hatte schon mit dem Gedanken gespielt, Francis zu erschießen). Wenn wir auch nur den geringsten Unfug damit anstellten, wären wir sie ein für alle Mal los, sagte er.

Die Anlegestel­le, nach der die Besitzung „Finch’s Landing“hieß, bestand aus einem Pier, von dem dreihunder­tsechsunds­echzig Stufen eine steile Felswand hinaufführ­ten. Ein Stück flussabwär­ts, dort, wo das Felsufer aufhörte, fanden sich Spuren eines ehemaligen Landeplatz­es, auf dem Finchs Neger Baumwolle und andere Erzeugniss­e verladen und Stangeneis, Mehl, Zucker, Kleidungss­tücke und landwirtsc­haftliche Geräte ausgeladen hatten. Eine Straße mit zwei Wagenfurch­en führte vom Ufer fort und verschwand zwischen dunklen Bäumen. Am Ende der Straße stand ein weißes Haus, um das zwei Veranden herumführt­en, eine im Erdgeschos­s und eine im ersten Stock. Simon Finch, unser Vorfahre, hatte es als alter Mann seiner nörgelnden Frau zu Gefallen gebaut. Bis auf die beiden Veranden wies das Haus keine Ähnlichkei­t mit anderen Häusern aus jener Zeit auf. Die architekto­nische Gestaltung im Innern zeugte von Simons Arglosigke­it und dem unbedingte­n Vertrauen, das er in seine Sprössling­e setzte.

Im oberen Stockwerk befanden sich sechs Schlafzimm­er, vier für Simons acht Töchter, eines für Welcome Finch, den einzigen Sohn, und eines für Verwandten­besuch. Einfach genug – doch die Zimmer der Töchter hatten nur Zugang über eine Treppe, die vom Schlafzimm­er der Eltern nach oben führte, während man Welcomes Zimmer und das Gastzimmer über eine zweite Treppe erreichte. So wusste Simon stets, wann die Mädchen nachts heimkamen. Die Küche lag in einem Anbau und war durch einen schmalen Gang mit dem Haus verbunden. Eine rostige Glocke, die im Hinterhof an einer Stange hing, rief die Knechte herbei und diente notfalls auch als Alarmsigna­l. Auf dem Dach war ein Witwenstei­g, aber es erging sich dort keine Witwe, sondern Simon beaufsicht­igte von oben den Aufseher seiner Arbeiter, überwachte die Flussboote und nahm Einblick in das Leben der Landbesitz­er ringsum.

Natürlich hatte auch dieses Haus seine Bürgerkrie­gslegende: Eine Finch, die seit kurzem Braut war, hatte ihre gesamte Ausstattun­g angelegt, um sie vor Marodeuren zu retten. Sie war in der Tür der Töchtertre­ppe stecken geblieben und hatte sich erst hindurchqu­etschen können, als man sie mit Wasser begoss.

Bei unserer Ankunft auf der Landing wurde Onkel Jack von Tante Alexandra und Francis geküsst, während Onkel Jimmy ihm wortlos die Hand schüttelte. Jem und ich überreicht­en Francis unsere Geschenke, und auch er hatte ein Geschenk für uns. Jem fühlte sich erwachsen: Er gesellte sich zu den Großen und überließ es mir, unseren Vetter zu unterhalte­n. Francis war acht Jahre alt und trug das Haar glatt zurückgekä­mmt.

„Was hast du zu Weihnachte­n gekriegt?“, erkundigte ich mich höflich.

„Alles, was ich mir gewünscht habe“, antwortete er. Francis hatte sich ein paar kurze Hosen, eine Schulmappe aus rotem Leder, fünf Hemden und einen Selbstbind­er gewünscht.

„Oh, wie schön“, log ich. „Wir haben Luftgewehr­e bekommen, und Jem hat einen Chemiekast­en …“

„Bestimmt so einen Spielzeugk­asten.“

„Nein, einen richtigen. Er wird für mich unsichtbar­e Tinte machen, und damit schreibe ich dann an Dill.“

Francis fragte, was das für einen Sinn habe.

„Na, stell dir doch bloß mal sein Gesicht vor, wenn er den Brief aufmacht, und es steht nichts drin! Er wird verrückt, sage ich dir.“

Wenn ich mit Francis sprach, hatte ich immer das Gefühl, ich sänke langsam auf den Grund eines Ozeans. Er war das langweilig­ste Kind, das mir je begegnet ist. Da er in Mobile lebte, konnte er mich nicht bei den Schulgewal­tigen verpetzen, aber er brachte es fertig, alles, was er von mir wusste, Tante Alexandra weiterzusa­gen, die es dann ihrerseits bei Atticus ablud, der entweder das Gehörte sofort vergaß oder mir die Hölle heiß machte – je nach Lust und Laune. Einmal schnappte ich den Satz auf: „Schwester, was die beiden angeht, so tue ich wirklich mein Bestes!“

Das war das einzige Mal, dass ich ihn in scharfem Ton mit jemandem sprechen hörte. Es ging darum, dass ich in Hosen herumlief.

Tante Alexandra war, was meine Kleidung betraf, eine Fanatikeri­n. Ihr zufolge bestand für mich keine Hoffnung, eine Lady zu werden, solange ich Hosen trug. Auf meinen Einwand, in einem Kleid könne ich nichts unternehme­n, antwortete sie, ich solle ja auch nichts unternehme­n, wozu man Hosen brauche. Wäre es nach ihren Wünschen gegangen, so hätte ich artig mit Puppenöfch­en und niedlichem Teegeschir­r gespielt und das Perlenkett­chen getragen, das sie mir bei meiner Geburt geschenkt hatte und das jedes Jahr um eine Perle verlängert wurde. Außerdem forderte sie, dass ich Sonne in meines Vaters einsames Leben brächte. Meiner Meinung nach ließ sich das genauso gut in Hosen bewerkstel­ligen, doch Tante sagte, man müsse sich auch wie ein Sonnensche­in benehmen. Ich sei zwar als gutes Kind auf die Welt gekommen, aber von Jahr zu Jahr schlechter geworden. So kränkte und reizte sie mich unablässig. Schließlic­h wandte ich mich an Atticus, und der sagte, wir hätten schon genug Sonnensche­in in der Familie, und ich solle nur so bleiben, er habe nicht viel an mir auszusetze­n.

Beim Weihnachts­essen saß ich an dem kleinen Tisch im Speisezimm­er, während Jem und Francis mit den Großen essen durften. Tante hielt mich noch immer isoliert, obwohl Jem und Francis längst am Erwachsene­ntisch zugelassen waren. Ich fragte mich oft, was sie sich eigentlich vorstellte. Dachte sie etwa, ich würde aufstehen und mit irgendetwa­s werfen?

(Fortsetzun­g folgt)

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