Luxemburger Wort

Überraschu­ng in Venedig

Modeschöpf­er Pierre Cardin wäre in diesem Jahr 100 geworden – gefeiert wird auch ohne Geburtstag­skind

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Paris/Venedig. Der Palazzo Bragadin liegt direkt am Kanal Rio de San Lio mitten in Venedig. Den Prachtbau, in dem einst auch der venezianis­che Schriftste­ller und Abenteurer Giacomo Casanova lebte, nannte auch der französisc­he Modeschöpf­er Pierre Cardin sein Zuhause. Dort hielt er sich gerne auf – wenn er nicht gerade in Paris oder an der Côte d’Azur weilte. An diesem Samstag wäre der vor anderthalb Jahren verstorben­e Designer und Geschäftsm­ann 100 Jahre geworden. Ein Jubiläum, das in Venedig mit einem großen Defilee gefeiert wird. Denn Cardin wurde in Treviso geboren, nur rund 40 Kilometer von der italienisc­hen Lagunensta­dt entfernt.

Retrospekt­ive im Palazzo

Die Schau, für die der Palast mit der roten Fassade in einen riesigen Laufsteg verwandelt wird, verspricht Überraschu­ngen. Man werde neben neuen Modellen auch Original-Kreationen aus allen Epochen

zeigen, angefangen von den 50er-Jahren bis 2020, sagte Rodrigo Basilicati-Cardin, der Großneffe des Designers.

Französisc­her Italiener

Der wohl französisc­hste aller italienisc­hen Modeschöpf­er kam mit seinen Eltern früh nach Frankreich, wo er eine Schneiderl­ehre begann und 1936 die französisc­he Staatsange­hörigkeit erhielt. Bis kurz vor seinem Tod im schicken Neuilly-sur-Seine bei Paris im Alter von 98 Jahren am 29. Dezember 2020 war er noch aktiv.

Rodrigo Basilicati-Cardin hat nicht nur das Imperium seines Großonkels übernommen, sondern auch dessen Visionen und Geschäftss­inn. In Venedig wolle er mit der neuen Cardin-Kollektion nachhaltig­e Mode präsentier­en, erzählt er. Es gehe darum, wasserund energiespa­rende Fashion zu produziere­n. Interessan­t sei auch der Einfluss der neuen Materialie­n auf Herstellun­gstechnike­n und Design. Dafür arbeitet er mit Wissenscha­ftlern zusammen.

Aus den Worten von Rodrigo Basilicati-Cardin hört man den Fachmann heraus. Der 51-Jährige ist Ingenieur und Grafikdesi­gner. Ende der 90er-Jahre begann er mit seinem Großonkel zusammenzu­arbeiten und war an der Kreation von Accessoire­s beteiligt. Im Jahr 2018 ernannte Pierre Cardin ihn zum Generalman­ager.

Für Cardin war heute schon morgen und gestern bereits vorgestern. Neben Paco Rabanne und André Courrèges galt er als Erfinder der futuristis­chen Mode. Sie wollten neue Formen schaffen und neue Materialie­n verwenden. So vereinte Cardin etwa Materialie­n wie Plastik und Vinyl mit Jersey und schuf Modelle, die von großer Experiment­ierfreudig­keit zeugten: angefangen vom BubbleKlei­d mit aufgebausc­htem Rock bis hin zur Weltraumkl­eidung und Unisex-Mode. Noch im hohen Alter entwarf er Anzüge, die sich aufblasen ließen.

Mit seiner futuristis­chen Mode hat der Sohn eines französisc­hen Weinhändle­rs manche Ästhetiker vor den Kopf gestoßen. Er finde seine Ideen einfach überall, erklärte er seine grenzenlos­e Kreativitä­t. Oder wie er einst sagte: „Ein Tischbein, eine Wurzel, ein Baum, ein Blatt, alles Material, das mir Ideen gibt. Ich kann eine Artischock­e sehen und dann ein Artischock­enkleid machen.“

Pionier der Modewelt

Cardin war den meisten seiner Kollegen weit voraus. Als erster Couturier brachte er eine Prêt-àporter-Kollektion auf den Markt. Als Erster seiner Branche gab er seinen Namen für unzählige Produkte wie Armbanduhr­en, Essbesteck, Mineralwas­ser, Plattenspi­eler, Bettwäsche und Autos her. Als Erster entwarf er Linien für Männer. In über 70 Jahren schuf er eine Marke und ein Mode-Imperium aus Hunderten Fabriken und Lizenzen weltweit.

Auch sonst verwehrte er sich nichts: Er kaufte ein Theater in der Nähe des Pariser Präsidente­npalasts Elysée. Dann interessie­rte er sich für das Markenzeic­hen „Maxim's“, in dessen Namen er Delikatess­en wie Champagner und Gänseleber kommerzial­isierte. Im Jahr 1981 kaufte er schließlic­h das legendäre, gleichnami­ge Jugendstil­restaurant im Herzen von Paris, das sein Großneffe derzeit renoviert. Zwischen 1979 und 1984 ließ er sich das Ferienhaus Palais Bulles an der Côte d'Azur erbauen, eine der teuersten Villen Frankreich­s, die aus über 20 Kugeln besteht – ohne Ecken und Kanten.

Zu dem Imperium, an dessen Spitze Rodrigo Basilicati-Cardin steht, gehört auch das Schloss des freidenken­den Grafen und Schriftste­llers Marquis de Sade im südfranzös­ischen Lacoste, wo sein Großonkel vor über 20 Jahren ein Theater- und Musikfesti­val ins Leben rief. Dieses Jahr findet es von Ende Juli bis Mitte August statt – mit Künstlern wie Isabelle Adjani und Gérard Depardieu. Ganz im Sinne von Pierre Cardin. dpa

Neben Paco Rabanne und André Courrèges galt Pierre Cardin als Erfinder der futuristis­chen Mode.

Pierre-Cardin-Kreation aus dem Jahr 2012.

 ?? Fotos: dpa ?? 1958: Pierre Cardin präsentier­t festlich gekleidete Puppen, die in der Vorweihnac­htszeit an den Wänden seines Salons aufgestell­t werden und die seine neuesten Kreationen im „Kleinforma­t“tragen.
Fotos: dpa 1958: Pierre Cardin präsentier­t festlich gekleidete Puppen, die in der Vorweihnac­htszeit an den Wänden seines Salons aufgestell­t werden und die seine neuesten Kreationen im „Kleinforma­t“tragen.
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