Luxemburger Wort

Wer die Nachtigall stört

-

34

Manchmal überlegte ich, ob ich sie bitten sollte, mich wenigstens ein einziges Mal mit den Erwachsene­n essen zu lassen.

Dann würde ich ihr schon beweisen, wie gesittet ich sein konnte. Immerhin saß ich zu Hause täglich mit den anderen am Tisch, ohne dass es zu nennenswer­ten Unfällen kam. Als ich Atticus anflehte, seinen Einfluss geltend zu machen, antwortete er, dass er keinen hätte. Wir seien Gäste und äßen an den Plätzen, die uns angewiesen würden. Tante Alexandra, fügte er hinzu, habe nie eine Tochter gehabt und verstehe daher nicht viel von Mädchen.

Aber ihre Kochkunst wog das alles auf. Das bescheiden­e Festmahl bestand aus dreierlei Fleisch, Sommergemü­sen aus der Vorratskam­mer, eingemacht­en Pfirsichen, zwei Sorten Kuchen und Götterspei­se. Nachher begaben sich die Erwachsene­n ins Wohnzimmer und saßen benommen herum. Jem legte sich auf den Fußboden, und ich ging auf den Hof. „Zieh den Mantel an“, murmelte Atticus schläfrig, aber ich stellte mich taub.

Francis setzte sich neben mich auf die Verandatre­ppe.

„Das war bis jetzt das Beste“, sagte ich.

„Ja, Großmama kocht einfach wunderbar“, bestätigte Francis.

„Sie will mir beibringen, wie man das macht.“

„Jungen kochen doch nicht.“Ich kicherte, als ich mir Jem in einer Schürze vorstellte.

„Großmama sagt, alle Männer sollten kochen lernen. Sie sollten ihren Frauen die Arbeit abnehmen und sie bedienen, wenn sie sich nicht wohl fühlen.“

„Na, ich habe keine Lust, mich von Dill bedienen zu lassen“, erwiderte ich. „Dann will ich schon lieber ihn bedienen …“

„Dill?“

„Jawohl! Erzähl’s noch nicht weiter, aber wir wollen heiraten, sobald wir groß genug sind. Er hat mir im Sommer einen Antrag gemacht.“

Francis lachte.

„Hast du was dagegen?“, fragte ich. „Dill ist schwer in Ordnung, das kannst du mir glauben.“

„Meinst du etwa den kleinen Knirps, der jeden Sommer bei Miss Rachel ist?“

„Genau den meine ich.“

„Von dem weiß ich alles“, verkündete Francis.

„Na, was denn zum Beispiel?“„Großmama sagt, er hat kein Zuhause.“

„Hat er doch. Er wohnt in Meridian.“

„Er wird bloß von einem Verwandten zum anderen geschubst, und bei Miss Rachel ist er eben im Sommer.“

„Das ist nicht wahr, Francis!“Er grinste. „Du bist manchmal ganz schön blöd, Jean Louise. Na, wahrschein­lich ist es nicht deine Schuld.“

„Was soll das heißen?“

„Wenn Onkel Atticus dich mit solchen Streunern rumlaufen lässt, dann ist das seine Sache, sagt Großmama. Also kannst du nichts dafür. Und du kannst wohl auch nichts dafür, dass Onkel Atticus ein Niggerfreu­nd ist. Aber ich muss dir mitteilen, dass es die übrige Familie sehr kränkt …“

„Zum Teufel, was meinst du eigentlich?“

„Genau das, was du eben gehört hast. Es ist schon schlimm genug, dass er euch beide verwildern lässt, sagt Großmama, aber jetzt, wo er ein Niggerfreu­nd geworden ist, können wir uns in Maycomb nicht mehr sehen lassen. Er ruiniert die Familie, ja, das tut er.“

Francis sprang auf und lief in den Küchengang. „Ein Niggerfreu­nd ist er, weiter nichts!“, rief er aus sicherer Entfernung.

„Ist er nicht!“, brüllte ich. „Ich weiß nicht, wovon du redest, aber hör sofort damit auf, sonst geht’s dir schlecht!“

Ich sauste den Gang entlang, bekam Francis mühelos zu fassen und befahl ihm, sofort alles zurückzune­hmen.

Francis riss sich los und flüchtete in die alte Küche. „Niggerfreu­nd!“, schrie er.

Wenn man jemanden belauert, lässt man sich am besten Zeit und wartet in tiefem Schweigen. Dann wird der andere todsicher neugierig und kommt zum Vorschein. So auch Francis: Er öffnete behutsam die Küchentür. „Bist du noch böse, Jean Louise?“

„Nicht besonders“, sagte ich. Er wagte sich auf den Gang hinaus.

„Nimmst du es jetzt zurück, Francis?“

Aber ich war zu voreilig gewesen. Er rettete sich zum zweiten Mal in die Küche, und ich setzte mich wieder auf die Treppe. Ich konnte ja warten. Nach etwa fünf Minuten hörte ich hinter mir Tante Alexandras Stimme: „Wo ist Francis?“

„Drüben in der Küche.“

„Er weiß doch, dass er dort nicht spielen darf.“

Francis erschien an der Tür und schrie: „Großmama, sie hat mich hier rein gejagt und lässt mich nicht raus!“

„Was soll das heißen, Jean Louise?“

Ich sah zu Tante Alexandra auf. „Ich habe ihn nicht rein gejagt,

Tante, und meinetwege­n kann er gern rauskommen.“

„Sie lügt!“, zeterte Francis. „Sie will mich nicht rauslassen!“

„Habt ihr euch gezankt?“

„Jean Louise ist wütend auf mich, Großmama“, rief Francis.

„Francis, komm da sofort heraus! Jean Louise, wenn ich noch ein Wort von dir höre, spreche ich mit deinem Vater. Hast du nicht vorhin ,Teufel‘ gesagt?“

„Nein, bestimmt nicht, Tante.“„Na, mir schien’s aber so. Jedenfalls möchte ich das nicht noch mal hören.“

Tante Alexandra war dafür bekannt, dass sie an den Türen horchte. Sobald sie außer Sicht war, tauchte Francis auf, grinsend und mit stolz erhobenem Kopf.

„Ätsch, du darfst mir nichts tun!“, sagte er, sprang im Hof herum und trat mit dem Fuß gegen Grasbüsche­l. Hin und wieder wandte er sich hämisch lachend nach mir um, aber er war sorgsam auf Abstand bedacht. Jem kam auf die Veranda, blieb einen Augenblick stehen und verschwand dann wieder. Francis kletterte auf den Mimosenbau­m, sprang herunter und schlendert­e mit den Händen in den Taschen über den Hof.

„Haha“, machte er, und ich fragte, für wen er sich eigentlich halte. Für Onkel Jack?

 ?? ??
 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Luxembourg