Luxemburger Wort

Emotionale Achterbahn­fahrt

Beim Quick-Step-Team läuft es bei der Tour de France sportlich rund, wäre da nur nicht das lästige Corona-Virus

- Von Joe Geimer

Patrick Lefévère wirft so schnell nichts aus der Bahn. Mit dem Quick-Step-Team hat der charismati­sche belgische Teamchef, der selten ein Blatt vor den Mund nimmt, fast alle Rennen gewonnen. Privat haben ihn auch eine Krebserkra­nkung und eine Anklage wegen Steuerhint­erziehung nicht dauerhaft entmutigt.

Lefévère ist ein Stehaufmän­nchen. Die ersten Tage der 109. Tour de France passen da ins Bild. Beim belgischen Topteam Quick-Step Alpha Vinyl durchlebte man nämlich ein wahres Wechselbad der Gefühle. Mittendrin: Lefévère, Fabio Jakobsen, Yves Lampaert und das Corona-Virus.

Die Bilanz könnte sich aus Quick-Step-Sicht nach drei Tourde-France-Tagen nicht viel besser lesen: zwei Etappensie­ge und ein Tag im Gelben Trikot. Das hätte der 67-Jährige so auch nicht erwartet. Vor dem Grand Départ war vor allem in Frankreich die Entrüstung groß. Wie kann man es nur wagen, Publikumsl­iebling und Weltmeiste­r Julian Alaphilipp­e zu Hause zu lassen? Die Kritiken waren laut. In den sozialen Medien wurde Lefévère hart attackiert und teils übel beschimpft.

Jakobsens „zweites Leben“

Hinzu kommt, dass auch Mark Cavendish die Tour-Teilnahme verwehrt blieb. Der Brite ist immerhin der Rekord-Etappensie­ger (34) beim größten Radrennen der Welt. Lefévère legte sich fest: Jakobsen soll in diesem Jahr die Sprintsieg­e einfahren. „Wir haben die richtige Wahl getroffen. Diese Siege sind der unumstößli­che Beweis. Mir ist egal, was die anderen Menschen denken“, erzählte Lefévère gestern vor dem Start des dritten Abschnitts. Strahlend und selbstbewu­sst diktierte er markante Sprüche in die Mikrofone und Aufnahmege­räte der Journalist­en.

Mächtig stolz ist er. Und ein wenig ergriffen ebenfalls. Denn die Geschichte von Jakobsen lässt niemanden kalt. Der 25-Jährige ist förmlich den Weg aus der Radsport-Hölle in den Tour-Himmel gegangen. Zwei Jahre nach seinem fast tödlichen Sturz bei der PolenRundf­ahrt ist er nämlich am Samstag zum Debüt-Triumph bei der Tour de France gerast. Der Sieg in Nyborg war für den Niederländ­er der vorläufige Höhepunkt einer schier unglaublic­hen Rückkehr in sein „zweites Leben“, wie er es nennt. „Es war ein langer Weg. Ich habe hart gearbeitet und bin Schritt für Schritt zurückgeko­mmen. Ich bin wirklich glücklich“, erklärt Jakobsen, der den Vorzug vor Cavendish erhalten hatte.

Lampaert stürzt im Leadertrik­ot

696 Tage zuvor war Jakobsen nur knapp dem Tod entronnen. Die Karriere des Niederländ­ers schien vorbei. Nach dem Horror-Sturz in Katowice, als er von seinem Landsmann Dylan Groenewege­n in die Balustrade­n gedrängt worden war, lag Jakobsen im Koma. Er hatte viel Blut verloren, zahlreiche Knochen waren gebrochen. Jakobsen musste mehrmals operiert werden, hatte nach dem Sturz nur noch einen eigenen Zahn und wurde im Gesicht mit 130 Stichen genäht. Die Narben sind bis heute deutlich zu erkennen und erinnern an den langen Leidensweg.

Acht Monate nach dem Sturz kehrte Jakobsen bei der TürkeiRund­fahrt ins Renngesche­hen zurück. Im Juli 2021 gewann er bei der Tour de Wallonie zwei Etappen. Es folgten im gleichen Jahr drei Tagessiege bei der Vuelta a Espana und zwei Erfolge bei belgischen Eintagesre­nnen. Nun bestreitet er tatsächlic­h seine erste Tour de France.

Lefévère freut das. Er weiß um die Stärken von Jakobsen. Seit seinem Sturz hat er 18 Siege für Quick-Step geholt, so viele wie nur noch der Belgier Remco Evenepoel. Und noch eine bemerkensw­erte Statistik: Jakobsen hat seit 2019 insgesamt 28 Massenspri­nts gewonnen – mehr als jeder andere. Sam Bennett (IRL/Bora) und Caleb Ewan (AUS/Lotto) kommen auf 25 Erfolge.

Wie nah Freud und Leid beieinande­r liegen, weiß Lefévère. Yves Lampaert (B) hatte am Freitag das Einzelzeit­fahren zum Auftakt gewonnen und das Gelbe Trikot geholt. Nach nur einem Tag war er es wieder los. Wout van Aert (B) eroberte es dank sechs Sekunden Bonifikati­on. Das war egal. Denn Lampaert war wenige Kilometer vor dem Ziel gestürzt. Er war froh, unversehrt geblieben zu sein. Und nach einer kurzen Hatz hatte er wieder zum Peloton aufgeschlo­ssen. Lampaert zog anschließe­nd den Spurt für Jakobsen an, der bedankte sich mit dem Tagessieg.

Sieben positive Fälle

Beim Quick-Step-Team haben sie es besonders eilig, denn über der Truppe schwebt ein Damoklessc­hwert namens Corona-Virus. Die Nervosität ist recht groß. Sieben Fälle binnen einer Woche innerhalb der Mannschaft wurden in den vergangene­n Tagen bekannt: Der Sportliche Leiter Tom Steels war ebenso positiv wie der Pressespre­cher. Mechaniker, Betreuer und eine Ernährungs­beraterin mussten zudem abreisen. Als einzigen Fahrer hat es bisher Tim Declerq (B) erwischt, der kurz vor dem Grand Départ durch Florian Sénéchal (F) ersetzt wurde.

Lefévère kann auch das nicht aus der Ruhe bringen. „Wir schauen einfach von Tag zu Tag“, sagt er mit der Ruhe eines 67-Jährigen, der schon alles erlebt hat.

Er kann es sicherlich auch verkraften, dass Jakobsen am Sonntag nur Fünfter wurde. Gewonnen hat Groenewege­n – ausgerechn­et der Niederländ­er, der nach dem Verschulde­n des Horror-Sturzes für neun Monate gesperrt worden war. Für den 29-Jährigen waren die vergangene­n Monate vor allem auf mentaler Ebene nicht einfach. Das hat er mit Jakobsen gemeinsam.

Der Niederländ­er Fabio Jakobsen gewinnt den ersten Massenspri­nt der 109. Tour de France.

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