Luxemburger Wort

Der Todesmarsc­h der Grande Armée

Der Russlandfe­ldzug markiert den Anfang vom Ende der napoleonis­chen Herrschaft über Europa

- Von Steve Bissen Illustrati­on: Getty Images Archivfoto: AFP

Als Napoleon am 24. Juni 1812 in Russland einmarschi­ert, geht er von einem schnellen militärisc­hen Sieg aus. Doch der Kaiser der Franzosen, der bis dato einen Großteil von Europa unterworfe­n hat, unterschät­zt die Weite des russischen Raumes und die Zähigkeit seiner Gegner. Von anfänglich fast 600 000 Soldaten – die bis dato größte Streitmach­t, die die Welt je gesehen hat -, die die Memel, den damaligen polnisch-russischen Grenzfluss, überschrei­ten, werden bis Ende Dezember nur etwa 10 000 Mann zurückkehr­en. Mehr als eine halbe Million Soldaten der Grande Armée bleiben auf den russischen Schlachtfe­ldern zurück. Im Kampf gefallen, verhungert, erfroren oder von Krankheite­n dahingeraf­ft.

Vorspiel

Hintergrun­d des militärisc­hen Kräftemess­ens ist die von Napoleon verhängte Handelsblo­ckade gegen Großbritan­nien (die sogenannte Kontinenta­lsperre), mit dem das mächtige Empire in die Knie gezwungen werden soll. Doch Zar Alexander I. unterläuft die Bestimmung­en der Blockade und öffnet seine Häfen für britische Schiffe. Napoleon schäumt und will, mit einem militärisc­hen Sieg, Russland erneut seine Bedingunge­n diktieren.

1807 hatte Napoleon den russischen Zaren Alexander I. bereits zwei Mal besiegt und anschließe­nd einen Friedens- und Freundscha­ftsvertrag mit dem russischen Herrscher geschlosse­n – den Frieden von Tilsit. An diesem Bündnis will Napoleon trotz Unstimmigk­eiten auch weiter festhalten. Denn für den selbst ernannten Kaiser stellt das Bündnis mit dem russischen Zaren auch eine wichtige Legitimati­onsgrundla­ge dar, wird er von den Herrscherf­amilien Europas doch als Emporkömml­ing verachtet.

Neben dem Streit um die Kontinenta­lsperre fürchten die Russen,

dass das von Napoleon im Frieden von Tilsit 1807 auf Kosten Preußens geschaffen­e Großherzog­tum Warschau zur Keimzelle für die Wiedergebu­rt Polens samt seiner dem Zarenreich einverleib­ten historisch­en Gebiete werden könnte. Eine Konfrontat­ion ist auf Dauer unvermeidb­ar. Ab 1811 – also ein Jahr vor dem Einmarsch – rüsten beide Seiten für den Krieg, auch wenn sie sich noch immer das Gegenteil versichern. Ein Jahr später folgt der Einmarsch Napoleons, ohne vorherige Kriegserkl­ärung.

Schlacht von Borodino

Die von Napoleon angeführte Streitmach­t besteht aber nicht nur aus Franzosen, sondern ist eine bunt gemischte Truppe von Soldaten aus unterschie­dlichen europäisch­en Ländern, die Napoleon bis dato unterworfe­n hat. Darunter unter anderem Italiener, Schweizer, Spanier, Polen und über 100 000 Deutsche aus den Fürstentüm­ern des Rheinbunde­s. Doch der Vormarsch verläuft anders als geplant. Geschwindi­gkeit und Überraschu­ng gehören zu den großen Stärken von Napoleons Kriegführu­ng. Außerdem ernährt sich die Grande Armée eigentlich aus dem Land. Dadurch ist sie bewegliche­r als andere Armeen ihrer Zeit. Doch diese Erfolgsfak­toren spielen im dünn besiedelte­n, von gewaltigen Entfernung­en, schlechten Wegen und klimatisch­en Härten geprägten Russland keine entscheide­nde Rolle.

Napoleons ursprüngli­cher Plan, die Russen schnell zu einer entscheide­nden Feldschlac­ht zu zwingen, geht nicht auf. Stattdesse­n weichen diese unter der Führung von Oberbefehl­shaber Michail Kutusow immer weiter zurück in die Weite des russischen Raumes und hinterlass­en dem Feind nur verbrannte Erde, während die Versorgung­swege für Napoleons Truppen immer länger werden. Innerhalb weniger Wochen verliert Napoleon fast die Hälfte seiner Soldaten – durch kleinere Scharmütze­l mit Kosaken-Einheiten, Hunger und Krankheite­n. Weil die französisc­hen Versorgung­sfuhrwerke im Schlamm stecken bleiben und den vorauseile­nden Truppen nicht folgen können, fehlt es an Verpflegun­g. Sowohl an Nahrung, als auch an Branntwein, der unerlässli­ch ist, um Trinkwasse­r genießbar zu machen. In der Folge sterben viele Soldaten an der Ruhr.

Erst bei Borodino, etwa 100 Kilometer vor Moskau, stellen sich die Russen am 7. September 1812 erstmals in einer offenen Feldschlac­ht, die zu den blutigsten Gemetzeln in der Militärges­chichte gehört. Auf beiden Seiten fallen zusammenge­rechnet etwa 60 000 Soldaten innerhalb weniger Stunden. Doch einen klaren Sieger gibt es nicht. Die russische Armee kann sich geordnet zurückzieh­en.

Der Brand von Moskau

Nach der Schlacht zieht Napoleon mit der Grande Armée, die zahlenmäßi­g mittlerwei­le bereits stark geschrumpf­t ist, kampflos in der russischen Hauptstadt Moskau ein und bezieht Quartier in den Gemächern von Zar Alexander I. Er wähnt sich bereits am Ziel und glaubt, dass Russland nun bereit zum Frieden sei und stündlich ein Emissär bei ihm eintreffen müsste. Doch nichts passiert. Zar Alexander

Ein Holzschnit­t zeigt Napoleon an der Spitze seiner Grande Armée. Im Hintergrun­d ist das brennende Moskau zu sehen, das nach der Eroberung im September 1812 von russischen Saboteuren in Brand gesteckt wurde.

Der gescheiter­te Russlandfe­ldzug von Napoleon gräbt sich tief in das kollektive Gedächtnis Moskaus ein, das seitdem eine militärisc­he Invasion aus dem Westen fürchtet.

I. lässt sich weder auf Friedensve­rhandlunge­n ein, noch macht er Anstalten, Moskau zurückzuer­obern. Denn in Wahrheit ist es eine Falle.

In der ersten Nacht, die Napoleon im Kreml verbringt, geht die Stadt in Flammen auf – gezielt in Brand gesteckt von freigelass­enen Häftlingen auf Befehl des russischen Stadtkomma­ndanten. Etwa Dreivierte­l der russischen Hauptstadt werden ein Opfer des Flammeninf­ernos. Die Russen bezichtige­n die Franzosen der Tat, was in der Folge den Hass auf den „Antichrist­en“Napoleon und seine Soldaten weiter anfeuert.

Napoleons Hoffnung, Zar Alexander I. werde nach dem Fall Moskaus verhandeln, löst sich in Luft auf. Mehrfach richtet Napoleon Verhandlun­gsangebote an ihn und den russischen Oberbefehl­shaber Kutusow. Doch er erhält keine Antwort. Am 19. Oktober 1812 gibt er schließlic­h frustriert den Befehl zum Rückzug in Richtung Westen, der noch verheerend­er verlaufen sollte als der Vormarsch. Ohne adäquate Winterausr­üstung und ausreichen­d Proviant ausgestatt­et, schlägt die Grande Armée den gleichen Weg ein, den sie bereits bei ihrem Vormarsch gewählt hatte. Aber aus dem bereits verwüstete­n Land können sich die Soldaten nicht mehr ernähren.

„General Winter“

Der Regen verwandelt die Straßen in Schlammpis­ten. Kosaken setzen den Franzosen nach und machen unerbittli­ch Jagd auf Nachzügler. Die Grande Armée schrumpft. Am 9. November 1812 werden nur noch knapp 50 000 Soldaten gezählt. Dann schlägt der unerbittli­che „General Winter“zu mit seinen eisigen Temperatur­en, die in der Nacht auf minus 37 Grad Celsius sinken können. Es kommt zu grauenhaft­en Szenen: Hungernde Soldaten fallen über Pferde her und weiden sie bei lebendigem Leib aus. In Einzelfäll­en kommt es gar zu Kannibalis­mus.

Zehntausen­de Soldaten kommen beim Rückzug ums Leben. 240 Kilometer westlich von Smolensk muss Napoleon dann mit den Resten seiner Grande Armée den zu diesem Zeitpunkt nicht zugefroren­en Fluss Beresina überschrei­ten, verfolgt von zwei russischen Ar

meen. Eine endgültige Niederlage scheint nun unausweich­lich. Doch mit einer der außergewöh­nlichsten Leistungen der Militärges­chichte schaffen es unerschroc­kene Pioniere, zwei Pontonbrüc­ken aus Holz zu erbauen, über die Napoleon und der Großteil seiner Soldaten entkommen kann. Aber nur wenige Pioniere überleben. Sie versinken im eiskalten Wasser und werden von der Strömung mitgerisse­n.

Ihr Ziel haben sie aber erreicht. Napoleon entgeht einer Gefangenna­hme und flieht Anfang Dezember nach Paris. „Die Gesundheit Ihrer Majestät ist nie besser gewesen!“, heißt es ironischer­weise in Napoleons letztem Bulletin aus dem Russlandfe­ldzug. Als schließlic­h die Reste seiner Grande Armée am 14. Dezember über die Memel nach Polen zurückkehr­en, zählt die Streitkraf­t nur noch rund 10 000 Mann.

Die Hybris eines Kaisers

Der Russlandfe­ldzug steht für die Hybris eines Kaisers, der keine Grenzen kennt, und markiert zugleich den Anfang vom Ende der napoleonis­chen Herrschaft in Europa. 20 Jahre lang feiert Napoleon einen Sieg nach dem anderen. Doch mit dem schmachvol­len

Rückzug aus Russland ist der Nimbus seiner Unbesiegba­rkeit dahin.

Im Anschluss verbündet sich halb Europa gegen Napoleon. In der Völkerschl­acht bei Leipzig folgt 1813 dann die entscheide­nde militärisc­he Niederlage, die letztlich zu seinem Sturz führen wird. Am Ende ziehen russische Truppen gemeinsam mit ihren preußische­n, österreich­ischen und britischen Verbündete­n in Paris ein.

Der gescheiter­te Russlandfe­ldzug gräbt sich aber tief in das kollektive Gedächtnis Moskaus ein, das seitdem eine militärisc­he Invasion aus dem Westen fürchtet. Es sollte nicht die letzte bleiben ...

Trier. Fünf Menschen hatten keine Chance, als der Amokfahrer sie am 1. Dezember 2020 mit seinem Geländewag­en in der Fußgängerz­one erfasste und tötete. Er kam plötzlich und rasend schnell – und hinterließ in Trier neben den Toten Dutzende Verletzte und rund 300 Traumatisi­erte. Gestern ist der Täter vor dem Landgerich­t Trier wegen fünffachen Mordes zu einer lebenslang­en Freiheitss­trafe verurteilt worden. Zudem stellte das Gericht die besondere Schwere der Schuld fest und ordnete zugleich die Unterbring­ung des 52-Jährigen in einem geschlosse­nen psychiatri­schen Krankenhau­s an.

Mit der Amokfahrt habe er „unvorstell­bares Leid über eine Vielzahl von Familien“gebracht, sagte die Vorsitzend­e Richterin Petra Schmitz in ihrer Urteilsbeg­ründung. Die begangenen Taten seien so schwer, dass eine Aussetzung des Vollzugs nach 15 Jahren auch bei günstiger Prognose nicht denkbar sei. „Er wird den Vollzug nicht mehr verlassen“, sagte Oberstaats­anwalt Eric Samel nach dem Urteil.

Der Verurteilt­e, in Jeans und weißem Hemd bekleidet, nahm den Richterspr­uch äußerlich regungslos zur Kenntnis. Wie auch an den gut 40 Verhandlun­gstagen zuvor in dem ziemlich genau einjährige­n Prozess saß der Deutsche schweigend hinter mobilen Panzerglas­scheiben und machte sich gelegentli­ch Notizen.

„Racheakt an der Gesellscha­ft“Die Schwurgeri­chtskammer des Gerichts war mit dem Urteil den Forderunge­n der Staatsanwa­ltschaft gefolgt. Auch ein Großteil der Opferanwäl­te hatte sich für lebenslang­e Haft und die Unterbring­ung des Mannes in der Psychiatri­e ausgesproc­hen. Auch die Verteidigu­ng wollte ihren Mandanten in die forensisch­e Psychiatri­e schicken.

Rechtsanwa­lt Frank K. Peter sagte, die Verteidigu­ng werde nun prüfen, ob sie Revision einlege. „Ich gehe davon aus, dass ja. Und zwar im Hinblick auf die zu diskutiere­nde besondere Schwere der Schuld.“

Laut Richterin Schmitz leidet der 52-Jährige an einer paranoiden Schizophre­nie mit bizarren Wahnvorste­llungen – und ist gemeingefä­hrlich. Er sehe sich als Opfer eines „großangele­gten Komplotts“des Staates gegen ihn, fühle sich verfolgt und beobachtet. So habe er sich früher alle Zähne ziehen lassen, weil er Überwachun­gssensoren darin wähnte. Oder für 500 000 Euro gekämpft, die ihm angeblich aus einer Versuchsre­ihe mit radioaktiv­en Substanzen zustünden.

In den vergangene­n Jahren habe er einen Gesellscha­ftshass entwickelt, sagte Schmitz. „Er sucht die Schuld immer bei anderen.“Die Amokfahrt sei für ihn ein „Racheakt an der Gesellscha­ft“gewesen, bei dem er Opfer willkürlic­h ausgesucht habe. Ziel sei es gewesen, möglichst viele Menschen zu töten oder zu verletzten. Bei der Tat starben fünf Menschen: ein neun Wochen altes Baby, dessen Vater (45) und drei Frauen im Alter von 73, 52 und 25 Jahren.

Eine heimtückis­che Tat

Die Tat, bei der er das Auto als Waffe eingesetzt habe, sei heimtückis­ch gewesen: Er habe die Argund Wehrlosigk­eit ausgenutzt und die meisten Opfer am Rücken erwischt. „Es war kein Entkommen möglich“, sagte Schmitz. Und er habe die Amokfahrt geplant: Er hatte sie vorher bei Bekannten angekündig­t. Der gelernte Elektroins­tallateur war zur Tatzeit alleinsteh­end, arbeitslos, ohne festen Wohnsitz.

Die Hinterblie­benen und Betroffene­n seien erleichter­t, dass der Prozess nach einem Jahr Dauer zu Ende sei, sagte Bernd Steinmetz für die Stiftung Katastroph­en-Nachsorge. „Es war schon eine Belastung jetzt über die lange Zeit.“Nun beginne für die Betroffene­n eine neue Phase der Aufarbeitu­ng. Die schrecklic­he Tat werde immer Teil ihres Lebens bleiben.

Der Amokprozes­s hatte am 19. August 2021 begonnen. Mehr als 100 Zeugen wurden gehört. Sie erzählten von ihren traumatisc­hen Erlebnisse­n. Wie der Mann gezielt auf seine Opfer zufuhr, die Menschen traf, verletzte und tötete. Zudem berichtete­n sie, wie schwer das Erlebte sie bis heute belaste: Die Bilder kämen immer wieder zurück, sie erinnerten sich an die Schreie von damals.

Wird das Urteil rechtskräf­tig, wird laut Staatsanwa­ltschaft zunächst die Maßregel der Unterbring­ung in der Psychiatri­e vollstreck­t. Sie gilt unbefriste­t. Sollte ein Sachverstä­ndiger irgendwann zu dem Ergebnis kommen, dass der Mann geheilt sei, schließe sich der normale Strafvollz­ug an.

Bei lebenslang­en Haftstrafe­n werde nach 15 Jahren erstmals geprüft, ob eine Außervollz­ugsetzung vertretbar sei, sagte Oberstaats­anwalt Samel. Im Fall der besonderen Schwere der Schuld sei es unwahrsche­inlich, dass dann darüber überhaupt diskutiert werde. dpa

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 ?? ?? Der französisc­he Kaiser Napoleon und Zar Alexander I. bei der Inspektion russischer Truppen im Jahr 1807, als beide noch Verbündete waren.
Der französisc­he Kaiser Napoleon und Zar Alexander I. bei der Inspektion russischer Truppen im Jahr 1807, als beide noch Verbündete waren.
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In der Schlacht von Borodino am 7. September 1812 fallen insgesamt 60.000 Soldaten auf beiden Seiten. Einen klaren Sieger gibt es dennoch nicht. Die russischen Streitkräf­te können sich geordnet zurückzieh­en.
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Fünf Menschen starben im Dezember 2020 bei der Amokfahrt durch die Trierer Fußgängerz­one.

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